11
Feb
2009

Eine Liebesszene

Budapest im Sommer 1989. Rosalind van Achten und Tom Boeder sind nach Ungarn gekommen, um Belle und Frederik zu suchen. Rosalind in der Hoffnung, Auskunft über den Verbleib eines Päckchens zu erhalten. Tom um Belle wieder zu sehen, die mit dem Ostdeutschen mitgegangen ist.
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Zurück im Hotel telefonierte Rosalind trotz der späten Stunde mit ihrem Mann, erzählte von den Ausstellungen, die sie gesehen hatte, und sagte ihm, dass sie noch ein paar Tage bleiben wolle. Tom hätte längst seine Mutter anrufen sollen, wagte es aber nicht, aus Angst vor schlechten Nachrichten.
Sie hatten sich zwei nebeneinander liegende Zimmer geben lassen, die durch eine Tür miteinander verbunden waren. Eine Familiensuite. Tom war frustriert und abgekämpft auf sein Bett gesunken und bald eingeschlafen.

War es denn sein Bett? Einmal glaubte er nicht allzu weit entfernt eine leise, nicht besonders wehmütige Liedstimme zu hören. Nur einen Vers. Einen kaum wahrnehmbaren englischen Akzent. Einmal stand eine Frau mit dem Rücken zu ihm, in ruhiger Sachlichkeit glitt ihr Rock zu Boden. Ein andermal glaubte er neben sich einen Körper, der unendlich viel Wärme und Anteilnahme versprach. Dann sank er wieder zurück in den unruhigen Schlaf, in dem ihn der Traum verfolgte, der seit seiner Kindheit wiederkehrte und der stets damit endete, dass er durch einen weitläufigen Ostgarten weglief, vor etwas, dass ihn einholen wollte. Da waren Mirabellen. Er hatte ihr aufgeplatztes Fruchtfleisch unmittelbar vor sich. Als er erneut wach wurde, beugte sich eine Frauengestalt über ihn.

„Du hast im Schlaf gesprochen.“
„Wovon?“
„Mirabellen, glaube ich. Das sind diese kleinen gelben oder grünen Früchte, nicht wahr? Kann das sein?“
„Ja.“
„Es war kein schöner Traum, so viel war zu hören. Warum träumst du ausgerechnet von Mirabellen, Tom?“

Er erzählte es ihr. Rosalind umarmte ihn und er versuchte, irgendetwas von dieser Geste festzuhalten. An den sicheren Bewegungen, mit denen sie ihm begegnete, merkte er, dass sie viele Liebhaber gehabt hatte. Und wieder kämpfte er mit dem Gefühl, keinen Halt zu finden. Eine Zeitlang befand er sich erneut inmitten eines dunklen Traums.
Irgendwann im Verlauf dieser Nacht entfernte sich Rosalind, um zu telefonieren - jedenfalls erwachte er von dem Geräusch, als ein Hörer aufgelegt wurde. Erst nach einer Weile wurde ihm klar, dass er davor Stimmen gehört hatte, nein, eine Stimme, die mit einer anderen sprach. Als Rosalind zurückkehrte, zündete sie sich eine Zigarette an und legte sich wieder zu ihm.
„Was ist los mit dir, Tom?“

Sie wartete eine Antwort nicht ab, sondern küsste ihn - zunächst erschien es wie eine kindliche Geste - auf den Mund. Tom schmeckte den warmen, schläfrigen Rauch. Mit der freien Hand griff sie nach seinem Glied wie nach einem neu entdeckten Spielzeug, das man ausprobieren will. Tom strich über die dünn und gläsern wirkende Haut ihrer Beckenknochen, die ihm sehr schön vorkamen. Dann beugte er sich schon über ihren leicht gerundeten Bauch und faltete, seiner eigenen wachsenden Erregung zum Trotz, die äußeren Hautfalten ihres Geschlechts auseinander. Als er den kleinen, glänzenden Knoten mit seinen Lippen bedeckte, den er dort gefunden hatte, sog Rosalind hörbar den Rauch der Zigarette ein. Er fühlte ihre Reaktion bis in die Spitze seines Glieds. Wie sicher ihre Gesten und Bewegungen waren, ohne Hast und ohne Zweifel. Er war jetzt voller Dankbarkeit und nahm dennoch, nachdem er merkte, dass sie ihm schon zuvorgekommen war, wenig Rücksicht: ganz so, als wäre Rosalind die unglückliche Botin einer schlechten Nachricht, für die sie nun die Strafe einstecken müsste. Zugleich hatte er das Gefühl, dass ihr gerade das gefiel.

Als sie später aus ihrem Bad zurückkehrte, war ihr glattes Haar nass und dunkel. Der Bademantel sprang auf und gab ein geometrisch abgeteiltes Stück Haut frei, als sie sich zu ihm aufs Bett setzte. Sie hatte einen schönen kleinen Mund, schmal und formbar.

„Weißt du“, sagte Rosalind zu ihm: „vor Jahren hat mich ein Mann sicher fünfhundert mal gefragt, ob ich mit ihm schlafen wollte. Und ich habe ihm ebenso oft geantwortet: ‚Nein. Sicher nicht!‘ Das war unsere ganze Konversation. Aber er fragte immer wieder: ‚Schläfst du mit mir?‘ Und ich antwortete jedes Mal: ‚Nein. Sicher nicht!‘ Beim dreihundertsten Mal merkte ich, dass es mir nicht mehr lästig war, jeden Tag gefragt zu werden. Ich glaube, ich wartete darauf. Um die vierhundert herum wurde es vergnüglich. Ein Spiel. Aber dieser Mann fragte unentwegt weiter. Jeden Tag. Ich fing tatsächlich an zu vermuten, dass er der richtige Liebhaber für mich sein könnte. Bei fünfhundert merkte ich, dass mich seine Frage erregte. Da kannten wir uns zwei Jahre, und er nahm es in dem Moment gar nicht richtig wahr, als ich ihm mit ‚Ja!’ statt mit ‚Nein!’ antwortete.“

„Warum erzählst du mir das?“
„Du willst doch Belle?“
„Ist das so schwer zu verstehen?“
„Ich habe das Gefühl, dass du noch andere Dinge im Kopf hast...“
„Wirst du Belle von uns erzählen?“
„Keine Sorge, du wirst es ihr selbst sagen.“
„Warum hast du mit mir geschlafen?“
„Oh, wir Engländer haben eine Schwäche für tragische Helden.“

Was war mit ihm getan worden? dachte Tom. Oder: Was hatte er getan? War er Täter oder Opfer? Und was war das für eine Welt, in der man das nicht mehr zuverlässig in Erfahrung bringen konnte?
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Die Lust zu schockieren

Auf FAZ.NET ist ein sehr interessantes Interview mit Peter Gay zu finden über seinen kunsthistorischen Versuch, die Bedeutung, das Wesen, die Faszination der 'Moderne' zu beschreiben. Das Gespräch führte Johanna Adorjan.

Peter Gay war Professor in Yale. Er wurde als Kind jüdischer Eltern in Berlin geboren und musste mit 16 Jahren vor den Nazis fliehen. Er gilt als einer der bedeutendsten Kulturhistoriker.

Seine zentrale Antwort auf die Frage, was macht die Moderne ausmacht, lautet: "...den Reiz der Häresie, also die Lust zu schockieren, etwas Neues, Ungesehenes, Ungehörtes zu wagen. Und bedingungslose Selbsterforschung, Subjektivität."

Das Interview hier

Peter Gay: „Die Moderne - Eine Geschichte des Aufbruchs“. S. Fischer, 653 Seiten, 24,90 Euro

10
Feb
2009

Dass das Herz durchhält

Sein Blut hatte zu wenig Sauerstoff transportiert. Daher die Müdigkeit in den letzten Wochen. Die Hausärztin hätte die Krankheit früher erkennen müssen. Aber auch Tom war klar, dass sein Vater nicht freiwillig in ein gottverdammtes Krankenhaus gegangen wäre; ob nun zum Sterben oder nur zum Zweck irgendeiner Untersuchung.
„Es kommt darauf an“, hatte der behandelnde Arzt am Anfang noch erklärt, „dass das Herz durchhält.“

Tom hatte während dieser Tage die Arbeit seines Vaters gemacht und an Belle gedacht, die mit Frederik herumzog. Morgens brachte er die Mutter ins Krankenhaus, nachmittags holte er sie wieder ab. Zuhause musste er dafür sorgen, dass sie etwas aß und sich hinlegte, weil sie noch weniger schlief als sonst. Im Betrieb fehlten zwei von vier Frauen, die im Verkauf arbeiteten. Die eine war in Erziehungsurlaub, die andere hatte eine Sehnenscheidenentzündung und beide Unterarme in Gips. Tom musste sich mit Aushilfen herumschlagen, um den Verkauf kümmern und ums Büro.

Es war kein großes Krankenhaus, und die Intensivstation hatte bescheidene Ausmaße, nur drei oder vier Räume. Georg Boeder war schon vom Gang aus durch eine Glasfront zu betrachten, ausgestellt wie in einer Vitrine. Wenn Annelie Boeder auf die Intensivstation kam, musste sie erst einen Kittel und Plastiküberschuhe anziehen, dann durfte sie zu ihrem Mann.

Als Tom den Vater das erste Mal in der Klinik besuchte, war noch eine junge Schwester im Raum. Sie trug den üblichen Schwesternkittel, aber ihre sonnengebräunten Beine steckten in weißen Sportschuhen mit dicker Gummisohle. Der Vater selbst wirkte größer als in seiner Erinnerung und hatte in dieser Umgebung an Bedeutung gewonnen: der Monitor für die Herzstromkurve, die vielfarbigen Signallampen, der Infusionsständer, die Schläuche für die Sauerstoffzufuhr, der EKG Schreiber, optische und akustische Funktionsanzeigen - es war eine Tatsache, dass diese Maschinen nur für ihn da waren.

„Sie können ihn ruhig anfassen“, sagte die Schwester, die eine freundliche helle Kinderstimme hatte.
Dennoch scheute sich Tom, den Körper zu berühren. Eine halbe Armlänge neben ihm blieb er stehen. Unter dem Laken gurgelte plötzlich etwas wie die letzten Wasserdampfstöße einer Kaffeemaschine. Gleich darauf zog süßlicher Gestank durch den Raum. Tom deutete auf die Stelle, wo der Geruch seiner Meinung nach herkam.
„Ich glaube, er hat was gemacht.“
„Dann gehen Sie bitte für einen Moment raus, damit wir Ihren Vater versorgen können.“
Als er auf dem Gang hinaustrat, um dort zu warten, dachte er wieder an Belle. Was war mit Belle?

Schon nach dem zweiten Besuch wusste er nicht mehr, was er im Krankenhaus sollte. Die Maschinen waren die Einzigen, die Zugang zum Vater hatten. Auch die Mutter sagte: „Man kann nichts für ihn tun.“
Trotzdem saß oder stand sie neben seinem Bett, die kühle Hand ihres Mannes hatte sie in ihre Hände genommen. Manchmal rief sie seinen Vornamen, als wollte sie ihn aus einem Mittagsschläfchen zum Nachmittagskaffee rufen.

Warten. Das hatten die Ärzte der Mutter als erstes beigebracht.
Tom hatte sich seit einiger Zeit bei dem Gedanken ertappt, ob es nicht besser wäre, wenn der Vater stürbe. Er dachte an das Leid seiner Mutter, er dachte an dieses aufwendige Hin und Her und er dachte daran, dass der Oberarzt angedeutet hatte, dass der Vater nie wieder ein normales Leben würde führen können – was immer das heißen mochte. Irgendwie kam es ihm vernünftig vor, wenn sein Vater stürbe, da seine Zeit abgelaufen war. Danach würde man alles in Ruhe ordnen und Lösungen finden. Man brauchte auf nichts mehr Rücksicht nehmen. Jedenfalls nicht auf den engstirnigen Geiz des Vaters, nicht auf seinen Starrsinn, den auch die Mutter immer wieder beklagt hatte, seine Intoleranz, seine schroffe Art, seine Abgestumpftheit, was neue Entwicklungen – nicht nur in der Floristik – anging, seine unbegreifliche Selbstgerechtigkeit und seine ewige Ablehnung gegenüber seinem einzigen Sohn…
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9
Feb
2009

4711

"AT ALL HISPANIC MEN IN MIAMI: *STOP* bathing in cologne!; u will still be a douche regardless, u just won't repel quite as effectively!"
Gefunden bei Twitter unter dem Stichwort Cologne Das erschließt mir die Stadt, in der ich seit vielen Jahren lebe, in ungeahnter Weise. 4711-Echt Kölnisch Wasser sollte sich vielleicht eine neue Marketing-Strategie einfallen lassen - oder die Rezeptur wechseln.

Das magst du

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kueste2
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Das magst du: tief in deinen alten Liegestuhl gedrückt
schauen wie nackte Füße die Gischt weiter tragen
bunte Drachen, die scharfkantig die Luft zerteilen
ein Schnittmusterbogen der Himmel
eine Windböe, jäh wie Möwenflug
über den kräuselnden Wellen und Sand
so hell wie das Haar deiner Tochter im Sommer
wenn es verborgene Falten füllt.
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Das magst du: das unaufgeregte Verschwinden
der Zeit, auf der Haut noch die Salzwärme der Luft
wenn gegen Abend die Wälder im Rücken des Hauses
dunkel werden und alles Licht sich über dem Meeressaum
versammelt, Zeichen für Suchende: Da
müsst ihr hin.
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Gedichte für Kinder

Der Niederländer Edward van de Vendel hat ein Buch mit Gedichten für Kinder geschrieben, das sehr gelobt wird. Es heißt Superguppy. Gedichte für neugierige Kinder. (Ab 6 Jahre). Das könnte ein Wachstumsmarkt werden.

8
Feb
2009

Jüdische Lebenswelten

Natürlich schaue ich nur aus beruflichem Interesse ;-) zum soundsovielsten Male Ivanhoe, einen der farbenprächtigsten Ritterfilme (USA 1952, Richard Thorpe). Gesendet wird immerhin bei ARTE. Warum? Weil der verdienstvolle Sender einige Themenabende über jüdisches Leben bringt. In Ivanhoe (nach dem Roman von Sir Walter Scott, der in dem Sagenkreis um König Löwenherz und Robin Hood angesiedelt ist) spielen ein reicher jüdischer Kaufmann und seine schöne Tochter ('der damals überirdisch schönen Elizabeth Taylor') eine wichtige Rolle.

Wer mehr für Non-Fiction ist: Danach sendet ARTE eine Doku über Juden im Rheinland im Mittelalter. Das mag vielen trocken klingen - aber man kann immer wieder erstaunt und beschämt sein, wie tief die Geschichte dieses Landes mit jüdischer Geschichte verwoben ist.

Warum ich das hier erwähne? Weil - wie in einer Reihe meiner bisherigen Arbeiten - auch in dem Roman 'Reichstage' die Tradition jüdischen Lebens (und Sterbens) in Deutschland eine wichtige Rolle spielt - wenn auch ganz anders als bisher.

Max Ernst

Am späten Nachmittag ein Besuch im Max Ernst-Museum in Brühl, südlich von Köln. Max Ernst, ein Sohn der Stadt, ist zweifellos einer der großen deutschen Maler und Bildhauer des 20. Jh. Das noch relativ junge Museum liegt ganz in der Nähe von Schloss Augustusburg. Immerhin ein Unesco-Weltkulturerbe. Ein Tip für einen schönen Sommertag: zuerst in das anregende Museum, dann zu einem Spaziergang mit Picknick in den wunderbaren Park.

Als einer der interessanten und zugleich welthaltigen rheinischen Künstler habe ich Max Ernst früher schon wahr genommen. Eines seiner spektakulärsten Bilder ist wahrscheinlich Maria wie sie das Jesuskind züchtigt, zu sehen im Kölner Wallraf-Museum.
Es ist sehr schön, einen Künstler, der solche Wagnisse eingeht, in einem so singulären und gar nicht provinziellen Museum gewürdigt zu sehen. Was mir bei diesem Besuch auffiel, war wieder einmal die ungeheure Produktivität und Vielfältigkeit eines Künstlers, der es zu seinem größten Lebensziel erachtet hat, sich nie gefunden zu haben.

Seine Bildwelten sind gewiss abgefahren - aber wir können jederzeit genug Indizien dafür herbei schleppen, dass unsere ganze Welt 'abgefahren' ist. Wie bei vielen außerordentlichen Künstlern beeindruckt mich der Mut, mit dem eine ganz eigene Formensprache 'gesetzt' wird.

Besonders gefallen haben mir diesmal die D-Paintings - Geburtstags- und Liebesgeschenke in Form von Bildern an seine Frau, die amerikanische Künstlerin Dorothea Tanning. Max Ernst brachte jedes Mal ein D auf den zumeist kleinformatigen Bildern unter. Begonnen hat er mit diesen Liebesgaben während seiner Emigrationszeit in den USA. Über mehr als zwei Jahrzehnte andauernd ist es eine menschlich und künstlerisch bewegende Rarität.

By the way: Demnächst ist Valentinstag!

Interview mit Wolfgang Joop

Im Kölner Stadtanzeiger ist ein kurzes Interview mit Wolfgang Joop erschienen: Mode und Kunst müssen irritieren.
Dazu gehört (in der gedruckten Ausgabe) ein Bericht über die Berliner 'Mercedes-Benz Fashion Week' unter dem vielsagenden Titel Warum so finster?>Hier

Mode und Biografie

Eine der Hauptfiguren in meinem Roman Reichstage ist Modedesignerin. Und obwohl die Arbeit an dem Roman schon (zu) viele Jahre andauert und er schon viele (noch nicht genug) Bearbeitungen hinter sich hat, vermochte ich es erst in den letzten Wochen, Bel Buchmann eine ernsthafte Biografie zu geben, die schon im Alter von drei oder vier Jahren auf die besondere Art von Mode verweist, die sie einmal machen wird - ohne dass ihr das (da es sich um ein verdrängtes Erlebnis handelt) bewusst sein wird.

Während des Schreibens habe ich relativ viel über Mode gelesen und recherchiert. Nun merke ich immer wieder - wenn Berichte über die Defilees in Paris, NY, London, Berlin und in anderen Städten erscheinen -, dass ich die Mode, die präsentiert wird, auch mit dem (oder für den) Blick einer Bel Buchmann anschaue und bewerte.

Unter der Rubrick Mode werde ich hier ab und zu darüber berichten.

7
Feb
2009

Früher

Früher hätte man sie eine Southern Belle genannt
und ich wäre mit ihr auf dem Dampfboot der alten
River-Queen den Mississippi hinunter bis New Orleans
wir hätten auf dem Achterdeck gestanden sie im weißen
Seidenkleid und der kleine Sonnenschirm
dreht sich vom Fahrtwind in ihrer Hand ich
in einem samtroten Frack der mir tadellos zu Gesicht steht
rechts und links Baumwollfelder und die Niggerkinder
winken uns fröhlich zu die gute alte Bessie jedoch
brummt ärgerlich wenn ich ihre Taille umfasse

Zenitnah stehen Perseus und Cassiopeia
dieser Himmel wird von romanischen Bögen gestützt
das Gotische ein Fremdkörper auferlegt dieser Stadt
von der ganzen gottverdammten Nation
wir stehen über dem Museumsufer dort
überquert die Linie 7 die rostigen Wasser
ein Schubverband der keine Baumwollballen trägt
deine Taille die weder romanisch ist
noch gotisch noch sanft und sittsam
gewiegt vom Mississippi

Ol’man river is rolling along die Sklaverei
zwischen uns kein Thema

6
Feb
2009

Kleinbürger - Großbürger?

Man glaubt mir nicht, dass ich ein Kleinbürger bin. Hätte ich schreiben sollen, dass ich ein Großbürger bin? Oder - von Berufs wegen - ein Intellektueller? Gibt es unter Intellektuellen keine Spießer? Und unter Großbürgern keine Kleinbürger?

Vielleicht hätte ich genauer beschreiben sollen, dass ich aus dem Kleinbürgertum stamme, einen Bildungsaufstieg absolviert und zeitlebens versucht habe, meine Abstammung hinter mir zu lassen...? Man schleppt sie aber ein Leben lang mit sich herum. Und man tut gut daran, sich dessen bewusst zu sein.

Wenn ich an meinen Kölner 'Nachbarn' Heinrich Böll denke, fällt mir eine bessere Beschreibung dieser Sphäre ein, die sowohl manche Intellektuellen wie auch manche Großbürger einschließen mag: es sind die kleinen Leute, die mich interessieren.

Gemachte Anmut?

Anfangs tourte sie in ihre eigenen Entwürfe gekleidet durch die Kölner Szene. Vernissagen, Partys, PR-Highlights. Alles, was es so gab. Hoch erhobenen Hauptes bewegte sie sich durch das Gewisper und Geschwätz, mit den unerklärlich gerade zurückgenommenen Schultern des gelernten Models, aus denen die Arme nicht etwa sinnlos herab fielen, sondern sich als Teil einer staunenswerten Anmut präsentierten.

Das war es auch, was Tom geradezu magisch anzog und Belle durch die Innenstadt bis zu ihrem Laden im Belgischen Viertel folgen ließ: diese andere Art sich zu bewegen. Doch als er Belle einmal davon erzählte, lachte sie nur.
"Was du gesehen hast, ist nichts als der Ausdruck unerbittlichen Drills. Was du natürliche Anmut nennst, ist in Wirklichkeit Handwerk.“
Tom war geradezu empört über diese Abwertung: „Das glaube ich nicht. Nie und nimmer! Und das will ich auch nicht glauben, Belle! Es gehört zu dir! Sicher ist es angeboren! Tausend Prozent!"
Belle schaute ihn mit einem leicht spöttischen Ausdruck im Gesicht an. „Der Gedanke gefällt dir nicht, weil du ein Mann bist. Weißt du, Tom, offensichtlich ist dir da etwas entgangen. Du hast mich nie diesen Drill trainieren sehen.“
„Aber wenn ich sehe, wie du dich bewegst… ja es ist angeboren! Das ist so ganz und gar offensichtlich!“ Dann überlegte er noch einmal. „OK, eigentlich ist es mir auch egal, wie es entstanden ist. Oder?“

Die Beine Stück um Stück einander leicht kreuzend nahm ihr Schritt die Bewegung des ganzen Körpers auf, erwies sich nicht bloß, da es aufdringlich wirken müsste, als simple Fortsetzung nur eines Teils der Muskulatur, und sei dieser, Hüfte, Becken oder Gesäß, im Einzelnen auch noch so beeindruckend –

Mit unbeirrbarer Sicherheit nahm sie auf diesen Runways ihren Weg. Kein Flash, der sie erschreckte, keine Kamera, die sich enttäuscht abkehren musste. Belle schien den Augenblick vorauszusehen, wenn eine Linse es darauf anlegte, mit ihr zu plaudern. Erst im Verlauf des zweiten Jahres, als man ihr mehr und mehr Einladungen ins Haus schickte, schraubte sie das Tempo etwas zurück.

Einmal hatte sie ihm ihre Setcard gezeigt, aus ihrer aktiven Zeit als Model, mit einer Mischung von Stolz und Selbstzufriedenheit und ein paar selbstkritischen Anmerkungen.
93-62-92

Während Tom darin blätterte und sich die Fotos ansah, stand sie in ihrem Ankleidezimmer, das einen beachtlichen Teil des Schlafzimmers einnahm. Ein Raum, der mit hohen Schiebetüren abgeteilt war, dahinter offene und geschlossene Schränke, ausziehbare Fächer, Kartons, Schubladen. Alles, soweit Tom sehen konnte, fein säuberlich geordnet. Belle war nackt bis auf einen schwarzen Slip und hielt ein dunkelblaues Kostüm prüfend in die Höhe. Sie hatte irgendeinen Termin. Dann wählte sie eine passende Bluse aus, wofür sie eine Weile brauchte. Es war seltsam für ihn, Belle in solche Maße gepresst zu sehen. Belle freilich hatte kein Problem damit.

"Gibt es etwas", sagte sie, ohne sich bei ihrer Auswahl stören zu lassen, "dass selbstverständlicher ist in unserer Branche, dass unmittelbarer Auskunft gibt über die Verhältnisse, als die nackten Zahlen, die Konfektionsgröße und Industrienorm betreffen?" Danach lachte sie ein kleines selbstironisches Lachen, das selten bei ihr war und Tom unangenehm berührte. Belle bemerkte es. "Du bist ein Romantiker, Tom. Oder noch schlimmer: ein melancholischer Mensch! Laufsteg, Runway, Catwalk, das heißt nicht viel und meist ist es eher banal. Figur und was du darunter verstehst - das ist gut und schön, aber was mich angeht, mein Lieber, war der Schlüsselreiz für die Branche nicht so sehr mein Körper, sondern mein Haar! Meist bin ich gebucht worden, weil man diesen Latino-Typus mit europäischem Einschlag wollte."

Ihr Haar war nachtschwarz, von ungemein kräftiger Struktur und zeitweise überaus störrisch. Belle erlaubte ihm ab und an, ihr behilflich zu sein, wenn sie es wusch. Tom war dann glücklich. Er liebte es, die Fülle aus ihrer sanft gewölbten Stirn zu streifen zu einem Helm, der bis über die Schultern reichte. Reichlich warmes Wasser. Noch mehr warmes Wasser. Belle schloss in Wonne die Augen. Die Kraft der Spiralfedern schien für kurze Zeit gebändigt.

Mit nassen, gebändigten Haaren maß sie eins sechsundsiebzig. Dazu kamen sechzig Kilo Idealgewicht, verteilt auf die heilige Dreieinigkeit.
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Künstlerpaare

Im Kölner Wallraf-Museum findet zurzeit (und nur noch bis 8. 2.) die Ausstellung 'Künstlerpaare' statt. 13 Männer und 13 Frauen, die im Bereich der Bildenden Kunst / Malerei zusammen arbeiteten und lebten, werden vorgestellt. Von Camille Claudel & Auguste Rodin über Gabriele Münter & Wassily Kandinsky bis zu Niki de Saint Phalle & Jean Tinguely.

Die Ausstellung war sehr gut besucht. Der Frauenanteil mochte bei etwa 80 % liegen - ein Hinweis darauf, dass die künstlerischen Arbeiten von Frauen bisher in Museen nach wie vor nur vereinzelt vorkommen und, wenn sie doch präsentiert werden, auch die entsprechende Aufmerksamkeit erregen.

Mir ist allerdings noch eine Erklärung eingefallen: Gerade Frauen (scusi!) romantisieren gerne mit der Vorstellung einer kreativen, künstlerischen Zusammenarbeit. Dagegen hält die Realität, halten die Biografien der Beteiligten die üblichen menschlichen Beziehungskatastrophen bereit: Betrug, Eifersucht, Abhängigkeit (der Schülerin vom älteren Lehrer, des Künstlers von der reichen Mäzenin). Gleichwohl hat mich überrascht, dass die Künstlerpaare in der Regel nicht wirklich zusammen arbeiteten, sondern quasi nur nebeneinander. Es gibt relativ wenige Beispiele gemeinsamer Bilder / Projekte (z.B. von Sophie Taeuber-Arp und Hans Arp oder der Figurenbrunnen von Jean Tinguely & Niki de Saint Phalle am Pariser Centre Pompidou).

Viele der Bilder und Objekte sind relativ unbekannt. Sodass überraschende Entdeckungen möglich sind: z.B. ein Textobjekt von Frieda Kahlo zu Johanna von Orleons, das mir gut gefallen hat. Probleme hatte (nicht nur) ich mit der Ausleuchtung einiger Bilder und Objekte: die Lichtstrahler waren zu direkt und damit zu grell.

5
Feb
2009

Kleider 1

Bel war an diesem Abend in Bleu, Blanc et Rouge gekleidet. Es war das Kleid, dessen Entwurfsskizzen sie Frederik gezeigt hatte, ihre Verbeugung vor der Grande Nation und der ewigen Wiederkehr der Revolution. Tom kannte es schon: Ein hautnah geschnittenes, schulterfreies Oberteil, wie eine Korsage, aus rotem Brokat gefertigt. Der Rock war wadenlang, aber in beachtlichen Teilen transparent, und bestand aus in drei Farbschichten Blau unterlegtem Chiffon. Dazwischen ein Band aus weißem Stretchsamt, das eigentümlicherweise mehr auf den Hüften ruhte als dass es die Taille betonte und, in auffallendem Kontrast zur vorwärts strebenden Geste von Ober- und Unterteil, die kühle Distanz eines ’Rühr mich nicht an!’ verbreitete.

Gänge am Abend

Wohin man auch blickt, tiefe Melancholie - zumindest bei den Blogs, auf die ich
zurzeit blicke. Also, ladylikekandis, oops, nanou, elke... da hätte ich vielleicht etwas...

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Die Gänge am Abend, wenn wir den
Randkanal ein Stück entlang seines
ausgedehnten Halbkreises begleiten -

Unser Leben an Baum bestandenen,
mit Hecken bewachsenen
Rändern.

Auffällig allein die Gravitation
(artist in residence)
stummer Begierden.

4
Feb
2009

Kein Alb-Schreiber

"Vielen Dank für Ihre Bewerbung und das damit verbundene Interesse an der Stelle des Alb-Schreibers. Nach eingehender Prüfung der zahlreich eingegangenen Bewerbungen müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass wir uns zwischenzeitlich für einen anderen Bewerber entschieden haben. Für Ihren weiteren Berufsweg wünschen wir Ihnen alles Gute."

Gebildet, aber ohne Job?

"Habe nun, ach, Philosophie studiert… Gebildet, aber ohne Job? Nein: Auch Geisteswissenschaftler
kommen irgendwie unter - doch der Weg ist steinig"
Interessanter Artikel von Sönke Abeldt zu einer Studie im Auftrag des Bildungsministeriums. Hier lesen...

Twitter

Ich habe mich bei Twitter angemeldet. Die Frage ist: Wird das meine Kommunikation, wird das mein Leben verändern? Figuren und Stories, die aus nicht mehr als 140 Zeichen bestehen. Soll manchmal schwierig sein, soviel zusammen zu kriegen für eine einzige Person.
logo

Erzählen

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Belle Oppenheim
Frederik Biografiearbeit Southern Belle
Johanna Tweets
Demenz Carl Kleider 1989
Patrizia Alzheimer Frechen
ich artist in residence
Gia Böll Köln

Amélie
Narff
Gedichte Johnny 2001
Bettina Leipzig Alltagsbetreuer Liebe am Nachmittag Haiku

:::::::::::::::::::::::::::::::: Jochen Langer lebt und arbeitet als Autor in Köln. Er war als Dozent für die 'Grundlagen des Erzählens' zuständig und hat eine Vorliebe für Literaturaktionen. Zahlreiche Förderpreise und Auszeichnungen. www.jochenlanger.de ----- Seit 2009 Alltagsbetreuer für demenziell Erkrankte, Dozent an Fachseminaren der Altenpflege und Museumsführer für Demenzkranke. Gründung von dementia+art - ein Dienstleistungs-Unternehmen für 'Kulturelle Teilhabe bei demenziellen Erkrankungen und altersspezifischen Einschränkungen'. www.dementia-und-art.de

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Gemachte Anmut?
Anfangs tourte sie in ihre eigenen Entwürfe gekleidet...
HansP - 28. Jun, 22:13
Dass das Herz durchhält
Sein Blut hatte zu wenig Sauerstoff transportiert....
HansP - 28. Jun, 22:02
Eine Liebesszene
Budapest im Sommer 1989. Rosalind van Achten und Tom...
HansP - 28. Jun, 21:57

_____________________ Meine Kommentare

Danke für deine Antwort,...
Danke für deine Antwort, Lady! Dass sie nie zusammen...
JochenLanger1 - 2. Apr, 23:14
Ich hätte ja gern gewusst,...
Ich hätte ja gern gewusst, wie du (und andere) das...
JochenLanger1 - 2. Apr, 17:00
Kaffeehaus-Essenz.
Auch ich habe Ihren Kommentar gerne gelesen, weil er...
JochenLanger1 - 31. Mär, 09:04
Die Reise des Helden
Nein, das ist nicht begriffsstutzig, sondern auch mein...
JochenLanger1 - 30. Mär, 21:29
Nicht für das oben beschriebene...
Nicht für das oben beschriebene Vorhaben. Ansonsten...
lamamma - 29. Mär, 23:12

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Leonard Bernstein, Nypo, Andre Previn
Gershwin: Rhapsody in Blue-An American in Paris


Dave (Composer) Ost/Grusin, Fabulous Baker B
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