2
Feb
2009

Der Himmel stürzt ein

In meinem Lieblingscafé am Römerpark wollte ich eigentlich zwei Stunden arbeiten. Am Notebook, wie ich es gewohnt bin. Diesmal jedoch wird im oberen Geschoss irgendetwas mit dem Vorschlaghammer traktiert. Und da ich bekanntlich (analog zu den tapferen Galliern) nichts fürchte - außer: der Himmel stürzt ein - habe ich beschlossen, abzubrechen und morgen erst mal zu schauen, wie das so mit dem Himmel gewesen ist...

1
Feb
2009

Sei doch einfach still!

In Köln läuft zurzeit die schlechteste Talk-Show Deutschlands. Sie wird von Center TV gesendet und von Konstantin Neven DuMont moderiert (falls man das so nennen kann). Ich habe diesen Krampf jetzt zwei- oder dreimal am Rande (mehr hält man nicht aus) mitbekommen und weiß nach wie vor nicht, was eigentlich ausschlaggebender ist: die Inkompetenz des fürchterlich banalen Erben eines linksliberalen Verlagshauses oder die gnadenlose Simplizität, mit der ein hölzern agierender Spross einer superreichen, einflussreichen Familie dort agiert.

Vielleicht sollte einem der junge Mann auch leid tun und stattdessen seinen Zorn auf die Claqueure im Publikum dieser 'Talkshow' ('Quo vadis Colonia?') richten: in Maßanzügen und Seidenkrawatten aufgereiht lassen sie jede Banalität und die Eitelkeiten des Moderators durchgehen, der in jedem zweiten Satz von sich selbst und seinen Erfahrungen mit den Unterprivilegierten, Nichtassimilierten, Politikfernen und sonstwie Benachteiligten spricht.

Heinrich Böll hätte zweifellos eine Satire wie 'Doktor Murkes gesammeltes Schweigen' daraus gemacht. Gibt es im angeblich so aufmüpfigen Köln niemanden in seiner Umgebung, der Konstantin Neven DuMont zu sagen wagt, dass er kein Talent zur öffentlichen Selbstdarstellung hat? Wie heißt es in Szabós Verfilmung von Klaus Manns Mephisto-Roman in Bezug auf gesteigerte Eitelkeit: "Sei doch einfach still!" Ist da kein hoch bezahlter Berater, der dergleichen nahe legte?

29
Jan
2009

John Updike

Ich glaube, der Tod von John Updike, dem großen amerikanischen Romancier, hat mich betroffen gemacht wie zuvor nur der von Heinrich Böll (in dessen Stadt ich immerhin lebe, an dessen Geburtshaus ich fast jeden Tag vorbei komme und in dessen Cottage auf Achill Island/Irland ('Irisches Tagebuch') ich zwei Monate lang zu Gast war.

Updike's Hasenherz (im Original 'Rabbit, Run'), der erste Band der berühmten Tetralogie, 1960 erschienen, geriet mir Anfang der 80er Jahre in die Finger. Ich hatte mein Studium beendet (nicht abgeschlossen, aber beendet) und beschlossen, es mit dem Schreiben zu versuchen. Updike's Held Harry Angstrom, ein ehemaliger Basketballstar, versucht sich nach dem Ende seiner Sportkarriere durch das alltägliche Amerika der späten 50er Jahre zu schlagen.

Der interessierte Leser wird sein Schicksal auch in den nächsten vierzig Jahren verfolgen - bis zu seinem Tod. Für mich war der erste Band vor allem sprachlich stets der herausragende und ein literarisches Erlebnis, weil Updike zeigte, was ein wahrer Meister an Form vorgeben und dann auch behaupten kann, sofern er in der Lage ist, die Geschichte und die Figuren mit Leben zu erfüllen. In meinen Augen war es Updike's Mut, der mir imponierte: einen Unterschicht-Versager in eine solche Geschichte, mit einer dichten, poetischen, genauen, spannenden und wunderbar lesbaren Sprache zu schicken - das war Weltliteratur und ist es geblieben, weil er uns - ohne jede Eitelkeit - zeigt, was wir nicht gesehen haben und uns damit reicher macht.

Rabbits Zusammensein mit der Gelegenheitsnutte Ruth (die später sein Kind haben wird) ist für mich eine der schönsten, dichtesten und erotischsten Beschreibungen der Weltliteratur. Man kommt sich als Autor ganz klein vor, wenn man es wieder liest - und zugleich findet man einen Maßstab, nach dem man sich bis ans Ende aller Tage strecken kann.

28
Jan
2009

Bossa Nova

Ich war heute in einem Semesterabschlusskonzert der Jazz- und Popabteilung der Kölner Musikhochschule. Fand einmal außerhalb der Hochschule statt, im Konzertkeller des Arttheater, gelegen im Multikulti-Stadtteil Ehrenfeld. Neues, junges Publikum. Zumindest erhoffte man sich das.

Ich musste mir einen Stempel auf meine Haut drücken lassen, einen Sitzplatz auf einer Bank ohne Lehne akzeptieren (immerhin eine kalte Ziegelwand im Rücken), und zwei junge Frauen rechts und links, die mir immer näher rückten (allerdings nur, weil es immer voller wurde, ständig stieß man an fremde Füße, wie in der Tanzschule).

Ich hörte mir bis zur Pause drei Acts an: zweimal Modern Jazz in Eigenkompositionen (gar nicht schlecht) und dann eine Brasil Combo, deren vier Stücke mir von Act zu Act besser gefielen. Die Gruppe Bossa Nova, mit einer Sängerin, die immer mehr Stimme, und mit einer Besetzung, die immer mehr Schwung entfaltete. Rings um mich wippende Füße und nickende Köpfe. Viele junge Gesichter. Schöner Abend.

27
Jan
2009

Stein

Bei uns klingelte es. Drei Jugendliche, Jungs. So um die 13 oder 14 Jahre. Sie sagten, ihnen wäre ihr Ball in unseren Reihenhausgarten geflogen. Ob sie ihn holen könnten. Ich verwies darauf, dass alles stockduster sei - dass es am nächsten Tag jedoch kein Problem sei. Ok? Der Junge, der die Bitte vorgetragen hatte, nickte. Hinter ihm moserte sein Freund lautstark: "Nääh, mein Vater...!" Ich nahm an, dass der Bursche (unter einem Kaputzenpullover) der Besitzer des Balls war, während der - höfliche - Fragesteller derjenige war, der den Ball in den Garten befördert hatte... (jedenfalls war das früher so: derjenige, der geschossen hat, muss fragen)

Die Drei zogen ab. Ich schloss die Haustür und wollte auch die Tür zum Flur schließen, als ich ein Geräusch hörte. Ich öffnete noch einmal die Haustür und sah, dass ein Steinwurf eines der acht Kassetten-Glasfächer zerbrochen hatte. Morgen war zu spät.

IGNIS

Das IGNIS ist das Zentrum für Osteuropäische Kunst und Kultur in Köln, ein weitgehend ehrenamtlich betriebener, von der polnischen Botschaft und einigen anderen Institutionen gesponsorter Ort, eine alte Villa im Norden von Köln, nahe am Rhein. Das IGNIS hat seit mehr als 20 Jahren ein sehr dichtes Kultur- und Veranstaltungsprogramm, regelmäßige Livejazz-Sonntagnachmittage und ab und zu auch Lesungen und andere Konzerte. Keine Ahnung wie die das machen.

Diesmal war ich neugierig auf einen Abend mit der polnischen Chansonette Jola Wolters, die seit vielen Jahren in Deutschland lebt. Ihr Programm (mit Klavierbegleitung) konzentriert sich auf Chansons und Lieder aus den 20er bis 40er Jahren, die an diesem Abend vor voll besetztem Haus (das bedeutet ~ 60 Leute; der Eintritt ist grundsätzlich frei!) zumeist polnisch vorgetragen, aber in deutscher Übersetzung vorab gelesen wurden.

Obwohl ich spät kam, saß ich ziemlich weit vorne und bekam bei einem Glas Chardonnay alles sehr gut live mit. Die Darbietung war intensiv und stimmig, die Stimme für den Zweck passend, ich fühlte mich gut unterhalten. Man sitzt übrigens an kleinen Tischen, es kann gegessen und getrunken werden, in der Regel polnische Hausmannskost und entsprechend preiswert. Als Zugabe zu dem sehr melancholisch angehauchten Programm (Liebe, Verlust, Liebe) gab Jola Wolters zwei Lieder von Marlene Dietrich, die in meinen Augen noch mit am Frischesten herüberkamen. Davon hätte es auch mehr sein können.

23
Jan
2009

Ein Essen in Budapest, Sommer 1989

Als Belle am nächsten Morgen aufwachte, war sie wieder allein. Von irgendwo jenseits der Häuserzeile dröhnte gleichmäßig ab- und anschwellender Verkehrslärm. Es war wieder sehr warm, sodass Belle ihr alltägliches Fitnessprogramm schnell hinter sich brachte. Sie frühstückte im Hotel und erkundigte sich an der Rezeption nach einer Buslinie, die ins Zentrum fuhr. Dort bummelte sie eine Weile ziellos durch die Innenstadt mit ihren Läden und Boutiquen. Doch wo die Touristenströme zusammen kamen, standen Billigklamotten und ungarische Folklore im Vordergrund, die Sissi-Filme der 50er-Jahre. Bald hatte sie keine Lust mehr. Lieber wäre sie jetzt mit Frederik in irgendeinem Flüchtlingslager gewesen. Weil sie Hunger hatte, fragte sie eine sorgfältig gekleidete, schon weißhaarige Dame nach einem guten Restaurant.

Die Dame verstärkte den feinen, leicht blasiert wirkenden Gesichtsausdruck habsburgischer Bourgeoisie und taxierte die hoch gewachsene junge Frau, die sich in einem rostroten Spencer und einem kurzen schwingenden Hosenrock von derselben Farbe präsentierte.
Ein hübsches Kind immerhin! mochte die alte Dame denken: Touristin. Meinetwegen. Aber nicht so ordinär wie diese in Horden. Ja sie würde ihr antworten. Sogar in habsburgischem Deutsch.

“... mein Kind, aber da sind Sie hier natürlich ganz falsch. Hier essen die Touristen oder die Geschäftsleute. Das sagt ja wohl alles. Die schlingen runter, was man ihnen vorsetzt, das kennt man ja. Verdirbt im Handumdrehen die Preise. Was schlimmer ist: die Qualität. Was kann ich Ihnen da empfehlen? 'International' werden Sie nicht essen wollen - also ungarisch, habsburgisch zumindest. Ein kleines Lokal? Wohl kaum. Sie wollen nicht einfach nur satt werden, Sie wollen auch etwas zu sehen bekommen. Also einen großen Raum, gut überschaubar, mit Kultur und Tradition. Ja, ich hab's. Nicht gleich um die Ecke. Aber Sie winken sich wohl eine Taxe heran und sagen dem Fahrer: ‘Ins Hungaria!’ Und wehe, er bringt Sie nicht binnen zehn Minuten hin.”

Das Hungaria war am ’Großen Ring’ gelegen. Der Taxifahrer hielt sich sogar an die Zehn-Minuten-Vorgabe. Im Zentrum des Hauses befand sich eine große Halle mit einer umlaufenden Galerie und einem Bereich, der als Restaurant diente, ’Tiefes Wasser’ genannt, weil er wie ein Schwimmbecken in der Tiefe des Raumes eingebettet schien. Die Decken waren mit Fresken geschmückt, die Lampen allesamt prächtige Lüster. Ein verschwenderischer Reichtum an Bronze und Marmor, edlen Hölzern und Kristall. Hundert Jahre nach der Entstehungszeit wirkte freilich alles etwas verstaubt.

Alle Tische waren besetzt. Der Oberkellner empfing Belle mit einer leichten Verbeugung. Ein Mann mit gewohnheitsmäßig freundlichem Gesicht, das an Kinn und Wangen von den dünnen Umrisslinien eines früh ergrauten Bartes in Schach gehalten wurde. Belle erinnerte es an die Buchsbaumbegrenzungen münsterländischer Bauerngärten. (Ihre Lieferantin für Leinen residierte in einer bewusst oldfashioned gehaltenen Manufaktur, die in einem solchen Envirement produzierte, allerdings nach modernen Fertigungsmethoden.)

„Einen Tisch? Möchten Madame speisen? Leider sind noch alle Tische belegt. Befindet sich Madame allein? Darf ich Ihnen vielleicht raten?”

Er geleitete sie hinunter ins ’Tiefe Wasser’, an einen Mitteltisch, wo bereits vier Männer und eine Frau saßen. Das Kopfende des Tisches war noch frei. Der Oberkellner sagte nun ein paar geringfügig klingende Sätze auf Ungarisch zu ihnen. Ein kräftiger Mann mit dem geschorenen Kopf russischer Rekruten war die auffälligste Erscheinung. Jeweils drei dicke goldene Ringe steckten in seinen Ohrläppchen. Er breitete den rechten Arm aus, an dessen Ende eine voluminöse Zigarre zwischen den Wurstfingern klebte, und wies mit einer kraftvollen Gebärde auf das freie Tischende.

“Wieder einmal zeigt uns Arpad”, deklamierte der Mann auf Französisch, “dass die Qualität eines Kellners nicht daran zu erkennen ist, wie er Speisen und Getränke serviert, sondern dass wir von ihm Menschenkenntnis erwarten dürfen. Sie haben gut getan, sich Monsieur Arpad anzuvertrauen. Es ist mir und meinen Freunden ein Vergnügen, Madame.”

Belle lächelte über die hübsche Begrüßung, dankte in ihrem fließendem, akzentfreiem Französisch, nannte ihren Namen und setzte sich.
Arpad deutete erneut eine Verbeugung an. “Darf ich Ihnen die Karte bringen?”
„Ich zöge es vor, wenn Sie mir etwas empfehlen würden. Oder...”, Belle wandte sich ihren Tischnachbarn zu: “Wenn Sie etwas Gutes gegessen haben...?”
„Ach, was soll’s! Nehmen Sie gleich das gekochte Rindfleisch, nicht wahr, Arpad?” empfahl ihr der kleine, hemdsärmelige Mann, der ihr gegenüber saß. Er trug eine Weste, die Belle an einen Spieler erinnerte. Der Mann hieß Andras und hatte eine dunkle Stimme: “Es war ordentlich mürbe. Und wenn Sie ein Leckermäulchen sind, müssen Sie hinterher die Topfenknödel mit Marillenkompott versuchen. Dann ist der Tag nicht ganz verloren.”
Belle nickte. “Gut.”
„Und was trinken Madame dazu?” wollte der Oberkellner wissen.
„Einen Villányir Burgunder. Anderes ist gar nicht denkbar!”
„Aber ich denke, ein trockener Tokaji Szamorodni passt besser!”
„Sie soll probieren.”

Die Frau neben Belle, hob die Flasche Tokaji etwas an. Sie hieß Theresia, war klein und dunkel, schien älter als Belle zu sein und war selbstsicher, aber nachlässig gekleidet. Sie trug zwei einfache bunte Tücher, das eine als Oberteil verschlungen, das andere als eine Art Wickelrock und wirkte dabei so, als wollte sie sagen: Ja ja, ich weiß schon, es geht auch eleganter, aber ich will das nun mal so! Auf einen Wink brachte ein Kellner mit glänzendem Haar ein Rotweinglas. Belle probierte die brombeerfarbene, auf den ersten Blick etwas ölig wirkende Flüssigkeit, die sich aber als trocken, fruchtig und sanft erwies.

Arpad beugte sich eifrig vor. “Eine Flasche vom trockenen Szamorodni?”
„Ja.“
„Woher kommen Sie? Was führt Sie nach Budapest?” wollte Andras von ihr wissen.
Belle wurde zum ersten Mal bewusst, dass gar nicht einfach zu erklären war, was sie hier tat. Sie entschloss sich, dem äußeren Anschein zu folgen. “Ich arbeite in der Modebranche und schaue mich ein wenig hier um.”
„In Budapest?” fragte Theresia, verblüfft und mit einer Spur Ironie.
„Warum nicht? Hier verändert sich zurzeit doch sehr viel. So was kann interessant sein...”
„Woher kommen Sie?”
„Aus Köln.”
„Aus Köln! Und für Sie ist interessant, was sich in Ungarn tut? Sie wollen uns auf den Arm nehmen!”
Belle zögerte, sie hatte nicht damit gerechnet, sich dafür rechtfertigen zu müssen. Dann wiederholte sie, mit einer deutlich wahrnehmbaren Spur Trotz in der Stimme: “Für mich ist es interessant!”
„Wie meinen Sie das, dass sich viel verändere in Ungarn?”
„Na ja, ich habe Bilder gesehen. Das war bei uns in den Zeitungen und im Fernsehen“, sagte Belle, als müsse sie hier daran erinnern. „Also wie Ihr Premierminister den ‘Eisernen Vorhang’...”
„Es war der Außenminister, unser verehrter Gyula Horn!” rief Andras dazwischen. “Aber das sind Kleinigkeiten...”, behauptete er, schaute sich um und grinste unangenehm, als habe er von einer solchen Touristin nichts anderes erwartet.
Belle merkte, wie sie unsicher wurde.
„Also, ihr Land führt den Kapitalismus ein und eine Demokratie nach westlichem Muster... ist das nicht so?”

Als der Kellner mit dem Wein erschien, probierte Belle und ließ auch den anderen einschenken. Dann wurde ihr Essen serviert: zwei Scheiben gekochtes Rindfleisch, sanft überglänzt von dunkler Soße, eine Handvoll tournierte Kartöffelchen und eine kreisförmig aufgeschichtete Portion Möhren und Zwiebeln, die im Fleischsud mit gegart hatten. Für den Moment verschaffte ihr das Ruhe.

Während sie mit Appetit aß, stellte sie ohne sonderliche Betrübnis fest, wie viel in der Welt vorging, ohne dass sie eine Ahnung davon hatte. Tageszeitungen las sie nur am Wochenende. Was sie regelmäßig blätterte waren Nachrichtenmagazine wie der ‚Spiegel‘ und die ‚Zeit‘, die das wichtigste zusammenfassten. Und natürlich Modejournale. Oder sie studierte Designkataloge, die Broschüren der großen Modehäuser und Mustermappen von Stoffherstellern. Und wenn sie sich einmal mit Aspekten der ‘Weltgeschichte’ beschäftigte, war sie meist auf der Suche nach einem Faltenwurf oder einem originellen Accessoire.
Dabei kümmerte sie sich nicht weiter um das Umfeld, sondern löste, was ihr brauchbar schien, aus dem Hintergrund der Gesellschaft, in der es gewachsen war, und transplantierte es, wohin und wie sie es wollte - jedenfalls an ganz anderer Stelle. Nicht der gewachsene Zusammenhang war es, der sie interessierte, sondern nur dessen äußerer Widerschein. Für die neue Kollektion hatte sie sich eifrig und intensiv mit der Kulturgeschichte der Französischen Revolution beschäftigt und ein paar reizvolle Details gefunden.

Bin ich ein oberflächliches, dummes Ding, wenn ich nicht jeden Tag die Leitartikel auswendig lerne? dachte sie. “Wie ist es bei Ihnen: Sind Sie Arbeitskollegen oder Freunde? Oder ist es nur Zufall, dass sie hier zusammen sitzen?”
Andras grinste erneut, als hätte er sich keine schönere Frage vorstellen können.
“Uns alle hier treibt die Sorge um Ungarn. Bisher hatte jeder Ungar seinen Arbeitsplatz. Sie wissen schon, wir haben in der Puszta Schafe und anderes Viehzeug gehütet. Und die, die kein Viehzeug gehütet haben, haben Salami hergestellt. Sie kennen ungarische Salami? Und wer weder Viehzeug gehütet noch Salami hergestellt hat, der hat das habsburgische Erbe bewacht und dazu Geige gespielt. So hatte jeder Ungar seine Arbeit. Für den einen eine bessere, für den anderen eine schlechtere. Aber was wird man denen sagen, die in Zukunft statt einer schlechten gar keine Arbeit mehr haben? Wird es sie trösten, dass es wegen der Einführung der Demokratie notwendig war, die Arbeit zu verlieren?”
Belle schaute von ihrem Teller auf, um anzuzeigen, dass sie soweit verstanden hatte. “Dann sind Sie gegen die Reformen?”
„Andras ist Künstler”, erklärte Theresia mit einem genervten Auflachen, das zeigte, das man in diesen Runde den Einwand schon kannte. „Er ist gegen alles.“
„Ich mache mir halt Sorgen um meine geliebte Heimat!” deklamierte Andras und begleitete seine Worte mit einer raumgreifenden, ironischen Geste. “Was sollen wir Künstler noch machen, wenn alles demokratisch zugeht? Wo bleiben die Ungerechtigkeiten? Schau dir an, womit man sich im Westen als ‘Künstler’ beschäftigen muss.... Schau es dir an! Und du wirst erkennen, wie wunderbar es sich unter Kadar arbeiten ließ. Schau dir die ‘Künstler’ im Westen an!”
„Im Westen?“ fragte Belle, die sich selbst ein wenig als Künstlerin fühlte und hoffte, mitreden zu können.
„Sag es!” forderte Theresia Andras lachend auf. „Und sei nicht so zurückhaltend. Madame glaubt sonst noch, du wärst schüchtern!“
Andras machte zwar eine abwehrende Handbewegung, sagte aber dennoch in einem Ton vollster Überzeugung: „Mit sich selbst! Im Westen beschäftigen sich die Künstler nur mit sich selbst! So ist das nun mal, meine Liebe!“ Er beugte sich über den Tisch und nahm Belle wieder genauer in den Blick. “Aber wir haben ja Erfahrung mit der Planwirtschaft. Da planen wir den Kapitalismus einfach, wie wir ihn brauchen.”

Die anderen schauten sich an und lachten, aber es klang unangenehm sarkastisch. Belle nahm an, dass sie solche Diskussionen schon häufiger geführt hatten. Eigentlich kannte sie das aus ihrem eigenen Freundeskreis: man verstand sich, warf sich die Bälle zu und spielte sie in einer anderen, möglichst überraschenden Richtung weiter. Allerdings wurde nur selten über Politik gesprochen und so gut wie nie ging es um so existentielle Dinge wie Freiheit oder Arbeitslosigkeit oder Demokratie. Allenfalls um Dinge, von denen der eine oder andere annahm, dass sie ihn existentiell betreffen könnten. Ihr fiel jetzt nur die Volkszählung ein. Oder Tom, der das dämliche Knöllchen, das er vor ihrem Laden kassiert hatte, zu einer Einschränkung seiner Grundrechte stilisiert hatte. Wenn sie und Frederik zusammen waren, hatten sie die grundsätzlichen Fragen lieber an sich vorüber ziehen lassen; schließlich gab schon genug andere Fragen zwischen ihnen, auf die nur schwer eine Antwort zu finden war.
“Sind Sie nicht froh, ist es nicht schön, ein paar Freiheiten mehr zu haben?” wagte sie einzuwerfen, weil sie sich ein paar Freiheiten mehr als etwas Schönes vorstellte, das das Leben bunter und lebenswerter machen konnte.

„Ein paar Freiheiten? Ich kenne nicht viele Leute, die in der Lage sein werden, gleich 'ein paar Freiheiten' in Anspruch zu nehmen. Wir alle werden von morgens früh bis spät in die Nacht hinein damit beschäftigt sein, irgendwelchen materiellen Dingen nachzujagen.”

Die Anderen schwiegen dazu. Belle nahm an, dass sie derselben Meinung waren. Sie hatte alles aufgegessen. Einen Nachtisch wollte sie nicht mehr. Jetzt schaute sie wie zufällig auf ihre hübsche goldene Armbanduhr. “Schon so spät!“
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22
Jan
2009

Einbruch

Im Wohnraum konnte sie zudem alles besser überblicken. Das war wichtig. Vor zwei Monaten hatten sie einen Einbruch gehabt, während sie mit Sabinchen in der Spielgruppe der Caritas gewesen war. Der oder die Diebe hatten die Tür zur Terrasse aufgehebelt. Danach mussten sie blitzschnell durchs Haus geeilt sein auf der Suche nach Bargeld. Die alten Bernsteinohrringe, die Scheckvordrucke, alles offen und gut sichtbar, blieben liegen. Doch aus einer Vorratsdose stahlen sie die Bargeldreserve, zweihundert Mark. Sonst nichts. Kein Vandalismus. Es waren Profis, Gott sei Dank!

An jenem Vormittag wurden noch drei weitere Häuser in der Nachbarschaft heimgesucht. Die Polizei erschien irgendwann im Lauf des Tages, verteilte Formulare und dämpfte jede Hoffnung auf einen raschen Fahndungserfolg. Vielmehr sollte das Prinzip Hoffnung gelten: irgendwann machte jeder Dieb einen Fehler... Danach versuchten sie, das Haus zu sichern und ließen Fenster, Türen und sonstige Öffnungen mit einem Alarmsystem versehen. Zumindest die Fehlalarme funktionierten prächtig. Der Polizeibeamte, der sie geduldig beraten hatte, schlug vor, einen Hund ins Haus zu nehmen. Aber Sabinchen war gegen Tierhaare allergisch. Keine Chance.

In der Zeit nach dem Einbruch hatte Keto ein Gefühl körperlichen Unbehagens, dass ohne ihr Wissen Fremde im Haus gewesen waren. In den ersten Tagen wischte sie alle Dinge, womit die Familie in Berührung kam, mehrfach mit einem Desinfektionsmittel ab. Mehr als einmal malte sie sich aus, wie es gewesen wäre, wenn die Einbrecher sie allein mit Sabinchen überrascht hätten… Wenn das Kind dabei war, vermieden Carl und sie das Thema, Sabinchen sollte keine unnötige Angst bekommen.
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21
Jan
2009

Passagen


In Köln finden zurzeit wieder die Passagen statt, die Design- und Avantgardepräsentationen, die die Möbelmesse begleiten. Ich werde mir in den nächsten Tagen ein paar davon ansehen (insgesamt sind es rund 190 Veranstaltungsorte - Gott bewahre!). Aber zunächst habe ich eine kleine Notiz gefunden, über einen Passagenbesuch vor fünf Jahren. Was, wenn sich gar nichts geändert hat?
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Wir beginnen die Besichtigungstour zur Möbelmesse im Baustellenchaos des ECR, direkt am Rheinufer. 'Art aqua' stellt Wasserbilder aus. Man hat sich das so vorzustellen, dass über eine Landschaft á la Klee in ganzer Breite Wasser strömt. Es kommt aus der oberen Rahmenleiste und verschwindet in der unteren. Nicht übel anzusehen.
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Auf Nachfrage von Patrizia erfahren wir allerdings, dass eine wesentliche Funktion dieser Kunstwerke darin besteht, die Raumluft zu befeuchten. Und so kursieren in einem Bildobjekt von vielleicht 80 x 60 etwa 15 Liter Wasser. Es muss kalkfrei sein und ab und zu nachgefüllt werden. (Ab 3500 Euro.) Gedacht ist wegen der beruhigenden Wirkung an Krankenhäuser und die Wandelgänge von Parlamenten.

Später, in den restaurierten Spichern-Höfen am Stadtgarten, haben gerade jede Menge Flagshipstores eröffnet. Und so klettern wir mit vielen vielen Anderen über viele viele Treppen. Dafür kriegen wir minimalistische Bäder zu sehen, die sich über dreißig Quadratmeter ausdehnen, Wohnparks mit Sitzlandschaften, beschirmt von krakenartigen Kristalllüstern und den wachen Augen der Security. Oder auch viele Anguckküchen für Privatmensen.

'Hier bitte nichts abstellen!'

Wo wir uns nicht anders zu helfen wissen, lästern wir: das Bücherregal über zwei Wohnebenen ist nicht einmal richtig gefüllt. Und die mächtigen Küchenfronten sind nur mit mächtigem Krafteinsatz zu öffnen. Und das Praktische an einer Schiebetür ist, dass sie immer irgendwo im Weg steht.

Nichtigkeiten.

Patrizia sagt, wir Reihenhausbewohner und Normalverdiener müssen dankbar sein, überhaupt zugelassen zu werden. Schließlich bewegen sich abseits der Passagen-Hektik dort nur Menschen, für die diese Dinge auch gedacht sind.

Gegen Ende des Rundgangs bin ich plötzlich tief in meiner Kindheit angekommen: Quirrenbach. In einer schummrigen Ausstellungsecke, als wir unvermittelt vor glatten, matt glänzenden Basaltplatten stehen, dunkelgrau, verhalten gemasert, in verschiedenen Formaten.
Wunderbar anzusehen.
Zudem (sagt der Verkäufer) ein haptischer Genuss.
Patrizia fühlt sich an Rückriem erinnert. Auch bei den Preisen.
Quirrenbach vor mehr als 30 Jahren. Dort gab es einen abgelegenen Steinbruch.
Und archaische Initiationen für das arglose Stadtkind -
Dass aus so viel schmerzlicher Erfahrung ein solches Maß an Ästhetik werden kann.
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Erzählen

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Belle Oppenheim
Frederik Biografiearbeit Southern Belle
Johanna Tweets
Demenz Carl Kleider 1989
Patrizia Alzheimer Frechen
ich artist in residence
Gia Böll Köln

Amélie
Narff
Gedichte Johnny 2001
Bettina Leipzig Alltagsbetreuer Liebe am Nachmittag Haiku

:::::::::::::::::::::::::::::::: Jochen Langer lebt und arbeitet als Autor in Köln. Er war als Dozent für die 'Grundlagen des Erzählens' zuständig und hat eine Vorliebe für Literaturaktionen. Zahlreiche Förderpreise und Auszeichnungen. www.jochenlanger.de ----- Seit 2009 Alltagsbetreuer für demenziell Erkrankte, Dozent an Fachseminaren der Altenpflege und Museumsführer für Demenzkranke. Gründung von dementia+art - ein Dienstleistungs-Unternehmen für 'Kulturelle Teilhabe bei demenziellen Erkrankungen und altersspezifischen Einschränkungen'. www.dementia-und-art.de

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Dass das Herz durchhält
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Budapest im Sommer 1989. Rosalind van Achten und Tom...
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_____________________ Meine Kommentare

Danke für deine Antwort,...
Danke für deine Antwort, Lady! Dass sie nie zusammen...
JochenLanger1 - 2. Apr, 23:14
Ich hätte ja gern gewusst,...
Ich hätte ja gern gewusst, wie du (und andere) das...
JochenLanger1 - 2. Apr, 17:00
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Auch ich habe Ihren Kommentar gerne gelesen, weil er...
JochenLanger1 - 31. Mär, 09:04
Die Reise des Helden
Nein, das ist nicht begriffsstutzig, sondern auch mein...
JochenLanger1 - 30. Mär, 21:29
Nicht für das oben beschriebene...
Nicht für das oben beschriebene Vorhaben. Ansonsten...
lamamma - 29. Mär, 23:12

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Leonard Bernstein, Nypo, Andre Previn
Gershwin: Rhapsody in Blue-An American in Paris


Dave (Composer) Ost/Grusin, Fabulous Baker B
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