10
Nov
2009
2
Apr
2009
Eine Totenrede
Ruthenbeck spricht selbst, den Körper hoch aufgerichtet wie stets, das Gesicht alt aber straff und streng mit sich selbst, das dunkelblonde, ins grauweiße changierende Haar sorgfältig zur Seite gekämmt, er trägt keine Uniform, aber seine Auszeichnungen und Orden aus vierzig Jahren DDR heften an der Brust.
Er beginnt mit einem Satz, der gleich die meisten seiner Zuhörer anrührt wie eine geheime Losung und in den Bann zieht: „Ich habe eine gute Kameradin verloren!“
Dann umreißt er die langen Jahre, die er mit seiner Frau zusammen war, anhand von Etappen der Parteigeschichte: die KP der Weimarer Republik, die KP im Moskauer Exil, die KP im Krieg auf der Seite der sowjetischen Brüder, der Aufbau einer Parteibasis in der sowjetischen Zone, die Gründung der SED und die aktive Teilhabe an der großen und grundsätzlichen Gesellschaftsveränderung – die bis zum heutigen Tage andauere.
Er schließt mit dem Satz, der schon einmal die große Trauergemeinde berührt hat: „Ich habe eine gute Kameradin verloren!“
Auf Wunsch des Generals werden Teile aus den ‘Nocturnes‘ von Chopin gespielt, Lieblingsstücke der Mutter, die das freut aber auch verlegen macht. Die beiden stehen nach der Beerdigung etwas abseits beisammen: sehr aufrecht und bemüht, die Distanz, die zwischen ihnen verblieben ist, auch jetzt einzuhalten. Und doch sieht Frederik an den sparsamen Bewegungen und Gesten, die weicher und ruhiger geworden sind, dass ihre Art einer langjährigen Vertrautheit, alle Hast und Anspannung verloren hat.
Als Frederik dem General kondoliert, hat er den Eindruck, dass diesen schon andere Dinge beschäftigen, private und politische. Er hat keine Gelegenheit, Ruthenbeck in diesen Tagen unter vier Augen zu sehen.
1
Apr
2009
Die Twosome-Briefe 32 (Ende)
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[Mittwoch, 11. November 2001]
Lieber Johnny,
ich weiß nun, dass der Mensch Ordnung halten soll in seinem Leben. Alles muss seinen Platz haben. Auch glaube ich nicht mehr, dass wir in diesen Ordnungen gefangen sind: wir können sie nur nicht durchbrechen.
Ich habe mir ein weißes Kleid gekauft. Wahrscheinlich ist es der Inbegriff von Kitsch, noch dazu dieses Weiß, das sonst gar nicht meine Farbe ist. Eigentlich ist es mehr cremefarben (das klingt wie eine Entschuldigung, aber du weißt schon, wie ich das meine). Es ist aus Leinen, ein Kleid in Etuiform, so streng und wenig sportiv…, und als ich mich im Spiegel ansah, sagte die Verkäuferin: „Man sieht, dass sie so was gut tragen können. Auch zu ihrem Haar.“
Da habe ich verlegen gelacht. Denn mein Haar ist etwas grau geworden. Sicher hat sie mir schmeicheln wollen. Aber dann hab ich’s doch gekauft, weil ich will, dass du mich in diesem Kleid siehst. Zugleich habe ich Angst vor diesem Augenblick.
Heute werde ich auf unseren Platz gehen, in diesem Kleid, und unser Spiel zu Ende spielen. Unsere Idealrunde haben wir nicht geschafft, aber wenigstens deinen Ball will ich dir zurück bringen.
Deine Amélie
31
Mrz
2009
Die Twosome-Briefe 31
[Samstag, 8. September 2001]
Liebe Amélie,
obwohl ich seit vielen Jahren Pilot bin, beschleicht mich immer noch die Sorge des Anfängers, die Maschine nicht in der Luft halten zu können. Als ob es allein auf den Piloten ankäme! Heute gelang mir auf dem Platz der längste Drive meines Lebens, an die 270 m. So weit war ich noch nie. Wow!
Und trotzdem, noch während ich den Ballflug verfolgte (es war am Ende kaum mehr möglich, diese Länge), konnte ich die Urangst nicht abschütteln, dass er nur lange genug in der Luft bliebe; dass er noch und noch und noch ein wenig länger in der Luft bliebe! Kann es sein, dass wir einfach so sind?
J.
PS: Habe schon heute gespielt, weil ich bis Donnerstag in den Staaten bleibe und weiß, dass du zweimal Helsinki machst. Am Dienstag übernehme ich wieder einen Inlandsflug (N.Y.- San Francisco). Ich springe für Bert ein, der mit einer neuen Flamme von den Singapore Airlines auf die Bermudas düst.
Ich tu’s nicht mal ungern, weil ich praktisch über Tomcaville und unsere Weizenfelder fliege (na ja, jedenfalls so gut wie). An meiner Vorfreude merke ich, wie ich daran hänge - und an unserem guten alten Golfplatz.
Was wir tun sollen? Schön wäre es, dort in Tomcaville einmal zusammen Twosome zu spielen. Wirklich zusammen, meine ich. Hättest du Lust?
Was es immer geben wird
In der nächsten Zeit veröffentliche ich das lange Prosagedicht
Was es immer geben wird auf Twitter.
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Was es immer geben wird: die freundlichen Blicke /
der Kellnerinnen und die bösen, den Dampf / > 2 #lyrik
1:41 AM Mar 31st from TweetDeck
30
Mrz
2009
Die Montagsfrau
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Sie kommt immer montags, gegen 17 Uhr. Sie ist mittelgroß, Anfang vierzig oder eine Spur darüber hinaus und sieht gut aus, mit jenem Touch zur Strenge, den Distinguiertheit und Lebenserfahrung mit sich tragen. Von beidem hat sie zweifellos eine Menge.
Stets ist sie exquisit gekleidet. Man soll ihr ansehen, dass ihr Mode Spaß macht. Denn die Sachen, die sie trägt, sind nicht nur erkennbar teuer, sondern auch geschmackvoll und mit Blick für das Ganze wie für das Detail zusammengestellt. Vor allem gefällt mir, dass sie hochwertige Strümpfe trägt (wahrscheinlich sind es ja Strumpfhosen, aber diese zu loben, scheint mir banal...), perfekt abgestimmt auf die Farbe der Schuhe oder, da es jetzt Mode ist: der hochschaftigen Stiefel.
Apropo perfekt: Ob ihre Figur ausgeprägt weiblich ist, vermag ich nicht zu sagen. Da sie eine Dame ist, hält sie ihre Konturen bedeckt (wohl aus dem vielfach erprobten Kalkül, gerade damit die suchenden Blicke anzulocken).
Ich frage mich, warum sie immer nur montags und gegen 17 Uhr erscheint.
Ich denke mir, dass sie vielleicht ein Seminar abhält an der nahen Fachhochschule. Immer nur montags. Aber dagegen spricht, dass sie stets ein edles Moleskine-Notizbuch hervorzieht und - nachdem sie einen Espresso mit einem Glas Wasser bestellt hat - mittels eines erkennbar edlen Füllfederhalters damit beginnt, umfangreiche Einträge zu verfassen. Fließend, ohne zu zögern. Ich denke: wenn das ein beruflicher Reflex sein sollte, hätte sie doch wohl eher so ein Notebook wie ich benutzt. Oder?
Vielleicht hat sie ja auch eine Therapiestunde gehabt. Auf der Couch. Aber dann käme sie nicht so abgeklärt daher. Nach einer Stunde Seelenklempner ist einem nicht gleich danach, alles aufzuschreiben. Wie auch immer: es ist ein Selbstgespräch, das sie mit sich und dem Moleskine führt und in der Regel hat sie nur 20 Minuten dafür.
Das Schreiben lenkt den Blick auf die schmalen Hände. An den Fingern stecken mehrere modern designte Ringe. Auch die Handtasche, aus der sie das Moleskine zieht, ist von bester Qualität. Als sie (nach 20 Minuten) gezahlt hat, nickt sie mir kurz zu, mit einer Andeutung von Lächeln, die besagt, dass wir wieder einmal nahezu intime Momente geteilt haben, bei wohltuender Distanz.
Bevor sie geht, nutzt sie die Toilette, die in dem Café nicht gerade einladend ist. Das irritiert mich ein wenig. Wenn es so ist, dass sie sich zu Fuß auf den Heimweg macht, würde eine Frau wie sie es gewiss vermeiden, diese Toilette zu benutzen.
Dann wohnt sie also doch nicht in der Nähe? Aber wo? Ob es unschicklich wäre, ihr zu folgen?
Jedenfalls weise ich montags ab 15 Uhr konsequent und energisch jeden anderen Gast ab, der sich an meinen Tisch setzen will (der immerhin für 8 Personen gedacht ist). Wenn Madame kommt, fragt sie dennoch höflich, ob noch ein Platz frei ist, was ich sodann bejahe. Das ist unsere ganze verbale Konversation.
Im Folgenden tue ich so, als wäre ich ganz und gar damit beschäftigt, irgendein wichtiges Problem in meiner aktuellen Worddatei zu bearbeiten. In Wirklichkeit werfe ich häufige und möglichst diskrete Seitenblicke auf Kleidung, Strümpfe, Moleskine, Füllhalter, Espresso mit einem Glas Wasser, das Ausmaß der Einträge, die verhüllte Statur, die Stoa ihres glatten Gesichts...
Zuletzt allerdings gerät mein sicheres Weltbild ein wenig durcheinander: Madame kommt in einer roten Lederjacke, die nicht einmal neueren Datums zu sein scheint; ferner in Sneakers, die schon ziemlich abgewetzt sind. An diesem Tag ist recht viel los im Café und die ansonsten aufmerksame Bedienung übersieht Madame einfach. Dreimal versucht Madame auf sich aufmerksam zu machen - vergeblich. Da dreht sie sich mit einem halb spielerisch, halb wirklich verzweifelten Ausdruck zu mir (ich sitze zwei Stühle weiter, es ist der Minimalabstand, ohne aufdringlich zu wirken), und sagt, nein, eigentlich ruft sie es mir zu: "Die sehen mich nicht!"
Für mich ist das ein Bruch mit der Konvention, ein seltsames Erleben, da diese Frau mit ihrem souveränen Auftreten auf einmal etwas Kindlich-Weibliches offenbart, in dem Hilflosigkeit und Schutzlosigkeit eine Rolle spielen - also alles was sich ein Mann nur wünschen kann.
Ich antworte nichts auf ihren Hilferuf, bin in diesem Moment nur das Publikum für ihre Fassungslosigkeit. Gleich darauf wird Madame auch schon bedient. Sie bestellt diesmal keinen Espresso, sondern ein großes Glas frischen Pfefferminztee. Das Moleskine, das sie hervorzieht, hat an diesem Tag ein größeres Format, das Mitteilungsbedürfnis an sich selbst scheint gewachsen.
Erst später fällt mir eine Replik ein, die alles zwischen uns hätte klären können: "Ich habe keinen Augenblick lang geglaubt, Madame, dass man Sie hätte übersehen können!"
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Die Twosome-Briefe 30
[Mittwoch, 22. August 2001]
Lieber Johnny,
vorgestern hatte ich zum ersten Mal Zypern. Oh Dear! Hinterher war ich schweißgebadet. Aber alles ist gut gegangen. Abends ging ich hier mit Ruth aus, einer Kollegin: erst essen und dann in ein Café in der Südstadt, wo man sitzen und reden kann.
Ich habe ihr von dir erzählt. Sie hat aufmerksam zugehört, wie man einer ungewöhnlichen Geschichte zuhört (sie hat keine Ahnung von Golf). Ruth hat nicht verstanden, warum es „so kompliziert“ sein muss. Ich versuchte es ihr zu erklären, also nicht, warum es kompliziert sein muss, sondern warum es ist wie es ist und dass es eigentlich ganz unkompliziert ist, wenn man sich an die Spielregeln hält, nicht wahr?
Ich hatte danach den Eindruck, dass Ruth mit ihren Männern schon gleich nach ein paar Stunden in die Kiste ist… Ich will das nicht verurteilen oder für mich ausschließen (du verstehst schon), aber wir haben uns für diese besondere Art der ‚Annäherung’ entschieden. Und das ist etwas, was ich mir nicht gerne nehmen lassen will. (Ruth hat später noch hinzugefügt, das höre sich für sie nach einer Art von Gefangenschaft an. Na ja, so kann man das auch sehen!)
Das solltest du wissen, wenn ich dir jetzt sage, dass ich zuhause war, als du zu meiner Wohnung gefahren bist. Es ist mir ähnlich ergangen wie dir: nur dass ich den Dienst absagen musste, weil mir in der Nacht übel war und ich mich am frühen Morgen noch übergeben hatte. Später war ich beim Arzt, aber es schien nichts Ernstes. Dann bin ich nach Hause, habe auf dem Weg ein paar Kleinigkeiten (Tee, Zwieback, etwas Brühe) eingekauft und mich ins Bett verkrochen. Als ich aufwachte, ging es mir besser.
Ich machte mir einen Kamillentee, aß ein paar Zwiebäcke. Dann hörte ich die Kinder draußen und bin ans Fenster. Ich wollte schon wieder zurück an den Küchentisch, als ich den fremden Wagen vor dem Haus sah. Du fährst einen roten Cruiser, nicht wahr? Très chique!!! Ich rätsele nur, wie du da deine Golfsachen verstaust. Du saßest hinter dem Steuer. Ich hab dich gleich erkannt.
Ich glaube, seit einiger Zeit frage ich mich, warum ich nicht schon früher so was gespielt habe, viel früher. Aber es war deine Idee - sie war Klasse, einfach Klasse!!! Und natürlich gehören zwei dazu, die dafür bereit sind. Mir ist, als würfe ich nun mein ganzes Leben in die Waagschale dieses Platzes.
Ich habe immer viel gearbeitet, um dahin zu kommen, wo ich jetzt bin: Ich wollte unabhängig sein, frei, ungebunden. Ich wollte die Welt sehen und weg aus einem kleinen Winzerort in der Südpfalz. Ich wollte am Steuer einer möglichst großen Maschine ganz nach oben, wo die Freiheit so grenzenlos schien... Und jetzt will ich nur noch auf der Erde gebased sein, an einem guten Ort, mit einem Menschen, der mich liebt. Ich will kein Gefängnis, aber diese Freiheit über den Wolken, das ist es nicht mehr.
Manchmal habe ich gedacht: wenn er mir sagt, ich solle zu ihm kommen - was werde ich dann tun? Wie oft hatte ich dich vor Augen, als du deinen Ball geschlagen hast, dein Gesicht unmittelbar neben mir.
Dort oben am Fenster habe ich gejauchzt vor Freude und war schon auf dem Weg zur Tür. Aber dann ließ mich irgendetwas zögern. Ich überlegte, ob ich nicht lieber das Fenster öffnen und dir zuwinken sollte. Doch da wusste ich schon, dass ich nichts dergleichen tun würde.
A.
PS: Einen 3-Meter-Putt habe ich dir gelassen. Das ist keine Kleinigkeit. Und ich habe jetzt englischen Tee im Haus.
Sag mir, was wir tun sollen. A.
Was tun?
Nach wie vor habe ich jedoch große Probleme damit, vor allem den Anfang des Romans (sagen wir: die entscheidenden ersten 50 Seiten) zu strukturieren. Um es deutlicher zu machen: die Handlung, die Figuren, die Texte - all das ist längst vorhanden.
Die Frage ist eine dramaturgische: wie setze ich sie ein?
Vertraue ich auf einen spannenden Plot und schiebe die biografische Unterfütterung der Figuren allmählich (d. h. auf den nächsten 500 Seiten) nach - das ist der Stand der Dinge. Oder stelle ich - nach einem Prolog, der das Romangeschehen im Rückblick umreißt und Spannung aufzubauen versucht - etwas altmodisch erst einmal die Figur der Heldin vor... - mit der Gefahr, dass der Leser ungeduldig wird...?
Den Prolog-Anfang von Reichstage findet man hier
28
Mrz
2009
Tango-Haiku
Denn noch tanzen wir
alle keinen Tango wenn wir
die Schritte zählen
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Der Caféhausbesitzer und der Dandy
- "Jacek Dehnel wurde am 1. Mai 1980 in Danzig geboren. Er studierte in Warschau, wo er heute lebt und arbeitet, als Kritiker und Übersetzer (z.B. Gedichte von Osip Mandelstam und Philip Larkin) sowie Prosaschriftsteller und Dichter. 2005 erhielt er den Kościelski-Preis, 2007 den „Reisepass” des Wochenmagazins Polityka.
Sein Roman „Lala”, eine Familiensaga, in der die zentrale Figur die Oma des Autors ist, Elżbieta, oder kurz: Lala. Der Enkel ist von der kreglen Alten fasziniert, die so einiges mitgemacht hat – vor allem während des Zweiten Weltkriegs, aber auch davor und danach. Farbig und fröhlich erzählt sie Geschichten aus der eigenen Familie, von Freunden und bekannten Zeitgenossen, und weil sie die Geschichten schon oft erzählt hat, übernimmt der Enkel immer häufiger den Part des Erzählers, als sie älter und schwächer wird.
Ein pralles Sittengemälde ganz im Stil der oral history."
- "Łukasz Dębski (geb. 1975) – Kinderbuchautor, Prosaschriftsteller. Lebt in Krakau, wo er als (Mit-)Besitzer eines Caféhauses unterhalb des Wawel Zeit hat, am Tresen seinen Stammkunden zuzuhören. Da kommt einiges zusammen: die Geschichte vom „Herrn Astronom“, einem großen Liebhaber von Himmels- und anderen Körpern, oder von Karol, dem Teppichhändler aus der Wendezeit, der sich eines Morgens auf einem Perserteppich zu Füßen des Papstes wiederfindet.
Als Kinderbuchautor erzählt er seinen Kindern Geschichten über Krakau und die Welt, in seinen Reiseführern beschreibt er für sie Griechenland, Frankreich oder Italien. Und in „Café Szafé“, so der Titel seines Erzählbands, lässt er den Leser teilhaben an dem, was ihm seine Stammkunden in nächtelanger Arbeit am Tresen erzählt haben."
Ich hätte in Anbetracht der relativen Jugend der beiden Autoren erwartet, dass modernere Formen und eher zeitgenössische Inhalte zur Geltung kommen würden. Aber beide Autoren verband die Neigung zur kleinteiligen, skurrilen Pointe, die sich aus vielfältigen Abschweifungen ergab. Erzählt wurde (vor allem von Dehnel) von bürgerlichen, ja von großbürgerlichen Verhältnissen, die zwei oder drei Generationen zurück lagen. Die polnische Jeunesse dorée überspringt offenbar die kommunistische Elterngeneration und wendet sich der Vorkriegszeit zu. Bei einem Glas Wein ein interessanter Abend.
27
Mrz
2009
Shall we dance?
Und da war vor einigen Monaten der amerikanische Film 'Darf ich bitten?' Der Chicagoer Anwalt John Clark - gespielt von Richard Gere - hat eine Frau und eine gesicherte Existenz und eine innere Leere. Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause sieht er eine Tanzlehrerin (Jennifer Lopez). Fasziniert von ihr beschließt er, sich für einen Tanzkurs anzumelden. Das Tanzen verändert sein Leben - und (Happy-end!) rettet am Ende seine Ehe.
Im amerikanischen Film ist natürlich viel mehr Konvention, Moral und Artistik. Im französischen findet sich eine bittere Süße, eine Mischung von Romantik und Realismus, vor allem nachdem der Gerichtsvollzieher beim Tanzen einer viel jüngeren Frau begegnet - die sich in ihn verliebt.
Beide Filme üben eine gewisse Faszination aus, weil gezeigt wird, wie Kopfmenschen, die ihre Wünsche nie auf eine anmutige, schöne Weise auf ihren Körper übertragen konnten, lernen, genau das zu tun. Sie bereichern ihr Leben um eine weitere Dimension, indem sie ihre Gefühle und sich selbst im Tanz, in der Bewegung ausdrücken.
26
Mrz
2009
Die Twosome-Briefe 29
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[Montag, 20. August 2001]
Liebe Amélie,
gestern hatte ich überraschend frei und bin nicht auf den Platz gefahren, sondern entgegen jeder Spielregel zu deiner Wohnung. Ich wollte einfach wissen, wie du lebst. Die Adresse hatte ich von Andy.
Ich bin also in die Siebengebirgsallee und habe nach der Nummer 34 gesucht. Eine eigentümliche Straße: die roten Ziegel des lang gezogenen Gebäudes, die winzigen Vorgärten zwischen den Hauseingängen, gerahmt von grünen Hecken. Als ich eine Zeit lang Amsterdam/Schipohl anflog, war ich an freien Tagen manchmal an der Küste, wo es Städtchen mit solchen Häusern gibt.
Ich fand deinen Namen: eine Wohnung im oberen Stockwerk. Es war später Nachmittag. Kein erkennbares Licht in deiner Wohnung. Ich habe nicht geklingelt. Ich wusste aber auch nicht, ob das schon alles sein sollte. Ich ging zu meinem Wagen zurück und parkte ihn näher an der Wohnung. Dann beobachtete ich Eingang und Straße. Dabei hätte ich dir nicht sagen können, was ich eigentlich wollte.
Auf dem Bürgersteig und in einem dieser kleinen Vorgärten – zwei Eingänge vor der Nummer 34 – spielten Kinder. Andere Kinder fuhren auf Fahrrädern, abwechselnd auf Straße und Bürgersteig, dann durchquerten sie einen Vorgarten und stießen zwischen einer Lücke in der Hecke wieder zurück auf die Straße. Ich sah ein Mädchen auf einem Einrad. Sie balancierte sehr kunstvoll darauf. Sie hatte blonde, glatte Haare und sah furchtlos aus. Ich musste an dich denken, denn obwohl ich wenig über dich weiß, bist du in meinen Augen furchtlos.
Im Grunde versuchte ich, wenigstens ein Stück weit hinter deine Fenster zu schauen. Einmal kam jemand aus dem Haus: eine junge Frau mit einer Tasche, in der offenbar viele leere Plastikflaschen waren. Einmal ging ein Mann ins Haus. Er war um die fünfzig, trug eine Anzughose und ein weißes kurzärmliges Hemd. Das Sakko hatte er über den Arm geworfen. Ich konnte erkennen, dass sich links im Flur gleich die Briefkästen befinden, denn der Mann stand noch in der geöffneten Tür, als er seinen öffnete.
Vielleicht wollte ich ja eine Ahnung bekommen. Eine Unruhe vertreiben. Jedenfalls war ich danach ruhiger. Ich habe dich jetzt vor Augen, wie du aus dieser Tür kommst, um zur Arbeit zu gehen. Oder wie du vom Einkaufen zurückkehrst. Wie du nach deiner Post schaust. Und sogar, wie du eines der Fenster öffnest und dich ein wenig vorbeugst, um den Himmel zu sehen.
Johnny
PS: Nachdem ich zuletzt das Birdy versaut habe, habe ich wenigstens versucht, alles wieder gut zu machen. Dein Drive war eine bildschöne Vorlage. Aber mein Holz 3 war, glaube ich, auch nicht übel und lässt dir jetzt noch einen Chip an die Fahne. Kein Bunker. Kein Wasser. Nur ein langweilig lang gestrecktes Grün. Ich sehe unseren Ball auf dieser Landebahn rollen rollen und rollen …
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Jardin des Plantes, Paris
Die kleine Gruppe entlang des Gartenzauns:
vorneweg die Dreijährige, quengelnd,
zum Schluss der Jüngste, säumig.
Das Geflecht, von der Mutter gestreift
mit gleichmütigem Blick. Erinnerungen
an die Leichtigkeit der Geduld und
den Panther, mürbe geworden
in diesem Zeitalter der Vernunft.
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'Unser Kampf'
"Humorfrei und stahlgrau reagierten die 68er auf die Erkenntnis, dass sie die Kinder ihrer Eltern waren. Den Nichtwiderstand gegen die Tyrannei, den sie den 33ern vorwarfen, wollten sie durch den Widerstand gegen die Nichttyrannei kompensieren."
Bei Perlentaucher sind auch die wichtigsten Rezensionen zu dem Buch versammelt
Für meine aktuelle Arbeit an den 'Reichstagen' war diese Debatte im Zuge eines Rückblicks auf 40 Jahre 68er-Bewegung von großem Interesse - auch weil ich in dem zuletzt veröffentlichten Kapitel zu Bel Buchmanns 'jüdischen Diebstählen' versuche, auf bestimmte Verformungen in der Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus gerade im linksliberalen Spektrum einzugehen.
PS: Freilich gebärdet sich Götz Aly, Alt-68er, Publizist und Professor für Geschichte in Frankfurt mit dem Spezialgebiet Holocaust-Forschung, in seinem Perlentaucher-Essay streckenweise ähnlich eitel und humorlos wie er es seinen ehemaligen "Kampfgefährten" unterstellt.
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