30
Mrz
2009

Die Montagsfrau

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Sie kommt immer montags, gegen 17 Uhr. Sie ist mittelgroß, Anfang vierzig oder eine Spur darüber hinaus und sieht gut aus, mit jenem Touch zur Strenge, den Distinguiertheit und Lebenserfahrung mit sich tragen. Von beidem hat sie zweifellos eine Menge.

Stets ist sie exquisit gekleidet. Man soll ihr ansehen, dass ihr Mode Spaß macht. Denn die Sachen, die sie trägt, sind nicht nur erkennbar teuer, sondern auch geschmackvoll und mit Blick für das Ganze wie für das Detail zusammengestellt. Vor allem gefällt mir, dass sie hochwertige Strümpfe trägt (wahrscheinlich sind es ja Strumpfhosen, aber diese zu loben, scheint mir banal...), perfekt abgestimmt auf die Farbe der Schuhe oder, da es jetzt Mode ist: der hochschaftigen Stiefel.

Apropo perfekt: Ob ihre Figur ausgeprägt weiblich ist, vermag ich nicht zu sagen. Da sie eine Dame ist, hält sie ihre Konturen bedeckt (wohl aus dem vielfach erprobten Kalkül, gerade damit die suchenden Blicke anzulocken).

Ich frage mich, warum sie immer nur montags und gegen 17 Uhr erscheint.
Ich denke mir, dass sie vielleicht ein Seminar abhält an der nahen Fachhochschule. Immer nur montags. Aber dagegen spricht, dass sie stets ein edles Moleskine-Notizbuch hervorzieht und - nachdem sie einen Espresso mit einem Glas Wasser bestellt hat - mittels eines erkennbar edlen Füllfederhalters damit beginnt, umfangreiche Einträge zu verfassen. Fließend, ohne zu zögern. Ich denke: wenn das ein beruflicher Reflex sein sollte, hätte sie doch wohl eher so ein Notebook wie ich benutzt. Oder?

Vielleicht hat sie ja auch eine Therapiestunde gehabt. Auf der Couch. Aber dann käme sie nicht so abgeklärt daher. Nach einer Stunde Seelenklempner ist einem nicht gleich danach, alles aufzuschreiben. Wie auch immer: es ist ein Selbstgespräch, das sie mit sich und dem Moleskine führt und in der Regel hat sie nur 20 Minuten dafür.

Das Schreiben lenkt den Blick auf die schmalen Hände. An den Fingern stecken mehrere modern designte Ringe. Auch die Handtasche, aus der sie das Moleskine zieht, ist von bester Qualität. Als sie (nach 20 Minuten) gezahlt hat, nickt sie mir kurz zu, mit einer Andeutung von Lächeln, die besagt, dass wir wieder einmal nahezu intime Momente geteilt haben, bei wohltuender Distanz.

Bevor sie geht, nutzt sie die Toilette, die in dem Café nicht gerade einladend ist. Das irritiert mich ein wenig. Wenn es so ist, dass sie sich zu Fuß auf den Heimweg macht, würde eine Frau wie sie es gewiss vermeiden, diese Toilette zu benutzen.
Dann wohnt sie also doch nicht in der Nähe? Aber wo? Ob es unschicklich wäre, ihr zu folgen?

Jedenfalls weise ich montags ab 15 Uhr konsequent und energisch jeden anderen Gast ab, der sich an meinen Tisch setzen will (der immerhin für 8 Personen gedacht ist). Wenn Madame kommt, fragt sie dennoch höflich, ob noch ein Platz frei ist, was ich sodann bejahe. Das ist unsere ganze verbale Konversation.

Im Folgenden tue ich so, als wäre ich ganz und gar damit beschäftigt, irgendein wichtiges Problem in meiner aktuellen Worddatei zu bearbeiten. In Wirklichkeit werfe ich häufige und möglichst diskrete Seitenblicke auf Kleidung, Strümpfe, Moleskine, Füllhalter, Espresso mit einem Glas Wasser, das Ausmaß der Einträge, die verhüllte Statur, die Stoa ihres glatten Gesichts...

Zuletzt allerdings gerät mein sicheres Weltbild ein wenig durcheinander: Madame kommt in einer roten Lederjacke, die nicht einmal neueren Datums zu sein scheint; ferner in Sneakers, die schon ziemlich abgewetzt sind. An diesem Tag ist recht viel los im Café und die ansonsten aufmerksame Bedienung übersieht Madame einfach. Dreimal versucht Madame auf sich aufmerksam zu machen - vergeblich. Da dreht sie sich mit einem halb spielerisch, halb wirklich verzweifelten Ausdruck zu mir (ich sitze zwei Stühle weiter, es ist der Minimalabstand, ohne aufdringlich zu wirken), und sagt, nein, eigentlich ruft sie es mir zu: "Die sehen mich nicht!"

Für mich ist das ein Bruch mit der Konvention, ein seltsames Erleben, da diese Frau mit ihrem souveränen Auftreten auf einmal etwas Kindlich-Weibliches offenbart, in dem Hilflosigkeit und Schutzlosigkeit eine Rolle spielen - also alles was sich ein Mann nur wünschen kann.

Ich antworte nichts auf ihren Hilferuf, bin in diesem Moment nur das Publikum für ihre Fassungslosigkeit. Gleich darauf wird Madame auch schon bedient. Sie bestellt diesmal keinen Espresso, sondern ein großes Glas frischen Pfefferminztee. Das Moleskine, das sie hervorzieht, hat an diesem Tag ein größeres Format, das Mitteilungsbedürfnis an sich selbst scheint gewachsen.

Erst später fällt mir eine Replik ein, die alles zwischen uns hätte klären können: "Ich habe keinen Augenblick lang geglaubt, Madame, dass man Sie hätte übersehen können!"
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Die Twosome-Briefe 30

bagrasbagras

[Mittwoch, 22. August 2001]

Lieber Johnny,

vorgestern hatte ich zum ersten Mal Zypern. Oh Dear! Hinterher war ich schweißgebadet. Aber alles ist gut gegangen. Abends ging ich hier mit Ruth aus, einer Kollegin: erst essen und dann in ein Café in der Südstadt, wo man sitzen und reden kann.

Ich habe ihr von dir erzählt. Sie hat aufmerksam zugehört, wie man einer ungewöhnlichen Geschichte zuhört (sie hat keine Ahnung von Golf). Ruth hat nicht verstanden, warum es „so kompliziert“ sein muss. Ich versuchte es ihr zu erklären, also nicht, warum es kompliziert sein muss, sondern warum es ist wie es ist und dass es eigentlich ganz unkompliziert ist, wenn man sich an die Spielregeln hält, nicht wahr?

Ich hatte danach den Eindruck, dass Ruth mit ihren Männern schon gleich nach ein paar Stunden in die Kiste ist… Ich will das nicht verurteilen oder für mich ausschließen (du verstehst schon), aber wir haben uns für diese besondere Art der ‚Annäherung’ entschieden. Und das ist etwas, was ich mir nicht gerne nehmen lassen will. (Ruth hat später noch hinzugefügt, das höre sich für sie nach einer Art von Gefangenschaft an. Na ja, so kann man das auch sehen!)

Das solltest du wissen, wenn ich dir jetzt sage, dass ich zuhause war, als du zu meiner Wohnung gefahren bist. Es ist mir ähnlich ergangen wie dir: nur dass ich den Dienst absagen musste, weil mir in der Nacht übel war und ich mich am frühen Morgen noch übergeben hatte. Später war ich beim Arzt, aber es schien nichts Ernstes. Dann bin ich nach Hause, habe auf dem Weg ein paar Kleinigkeiten (Tee, Zwieback, etwas Brühe) eingekauft und mich ins Bett verkrochen. Als ich aufwachte, ging es mir besser.

Ich machte mir einen Kamillentee, aß ein paar Zwiebäcke. Dann hörte ich die Kinder draußen und bin ans Fenster. Ich wollte schon wieder zurück an den Küchentisch, als ich den fremden Wagen vor dem Haus sah. Du fährst einen roten Cruiser, nicht wahr? Très chique!!! Ich rätsele nur, wie du da deine Golfsachen verstaust. Du saßest hinter dem Steuer. Ich hab dich gleich erkannt.

Ich glaube, seit einiger Zeit frage ich mich, warum ich nicht schon früher so was gespielt habe, viel früher. Aber es war deine Idee - sie war Klasse, einfach Klasse!!! Und natürlich gehören zwei dazu, die dafür bereit sind. Mir ist, als würfe ich nun mein ganzes Leben in die Waagschale dieses Platzes.

Ich habe immer viel gearbeitet, um dahin zu kommen, wo ich jetzt bin: Ich wollte unabhängig sein, frei, ungebunden. Ich wollte die Welt sehen und weg aus einem kleinen Winzerort in der Südpfalz. Ich wollte am Steuer einer möglichst großen Maschine ganz nach oben, wo die Freiheit so grenzenlos schien... Und jetzt will ich nur noch auf der Erde gebased sein, an einem guten Ort, mit einem Menschen, der mich liebt. Ich will kein Gefängnis, aber diese Freiheit über den Wolken, das ist es nicht mehr.

Manchmal habe ich gedacht: wenn er mir sagt, ich solle zu ihm kommen - was werde ich dann tun? Wie oft hatte ich dich vor Augen, als du deinen Ball geschlagen hast, dein Gesicht unmittelbar neben mir.

Dort oben am Fenster habe ich gejauchzt vor Freude und war schon auf dem Weg zur Tür. Aber dann ließ mich irgendetwas zögern. Ich überlegte, ob ich nicht lieber das Fenster öffnen und dir zuwinken sollte. Doch da wusste ich schon, dass ich nichts dergleichen tun würde.

A.

PS: Einen 3-Meter-Putt habe ich dir gelassen. Das ist keine Kleinigkeit. Und ich habe jetzt englischen Tee im Haus.

Sag mir, was wir tun sollen. A.

Was tun?

Ich habe mir für den Wochenanfang - wieder einmal - wichtige, unumgängliche Strukturarbeiten vorgenommen. Mein Roman 'Reichstage' ist sehr umfangreich, hat drei Handlungsstränge, die miteinander verflochten sind, und erzählt vor dem Hintergrund der Wendejahre das Schicksal einer Handvoll Menschen in Ost und West. So weit.

Nach wie vor habe ich jedoch große Probleme damit, vor allem den Anfang des Romans (sagen wir: die entscheidenden ersten 50 Seiten) zu strukturieren. Um es deutlicher zu machen: die Handlung, die Figuren, die Texte - all das ist längst vorhanden.
Die Frage ist eine dramaturgische: wie setze ich sie ein?

Vertraue ich auf einen spannenden Plot und schiebe die biografische Unterfütterung der Figuren allmählich (d. h. auf den nächsten 500 Seiten) nach - das ist der Stand der Dinge. Oder stelle ich - nach einem Prolog, der das Romangeschehen im Rückblick umreißt und Spannung aufzubauen versucht - etwas altmodisch erst einmal die Figur der Heldin vor... - mit der Gefahr, dass der Leser ungeduldig wird...?
Den Prolog-Anfang von Reichstage findet man hier
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:::::::::::::::::::::::::::::::: Jochen Langer lebt und arbeitet als Autor in Köln. Er war als Dozent für die 'Grundlagen des Erzählens' zuständig und hat eine Vorliebe für Literaturaktionen. Zahlreiche Förderpreise und Auszeichnungen. www.jochenlanger.de ----- Seit 2009 Alltagsbetreuer für demenziell Erkrankte, Dozent an Fachseminaren der Altenpflege und Museumsführer für Demenzkranke. Gründung von dementia+art - ein Dienstleistungs-Unternehmen für 'Kulturelle Teilhabe bei demenziellen Erkrankungen und altersspezifischen Einschränkungen'. www.dementia-und-art.de

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_____________________ Meine Kommentare

Danke für deine Antwort,...
Danke für deine Antwort, Lady! Dass sie nie zusammen...
JochenLanger1 - 2. Apr, 23:14
Ich hätte ja gern gewusst,...
Ich hätte ja gern gewusst, wie du (und andere) das...
JochenLanger1 - 2. Apr, 17:00
Kaffeehaus-Essenz.
Auch ich habe Ihren Kommentar gerne gelesen, weil er...
JochenLanger1 - 31. Mär, 09:04
Die Reise des Helden
Nein, das ist nicht begriffsstutzig, sondern auch mein...
JochenLanger1 - 30. Mär, 21:29
Nicht für das oben beschriebene...
Nicht für das oben beschriebene Vorhaben. Ansonsten...
lamamma - 29. Mär, 23:12

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