18
Dez
2008

Hippopotamus

Nil Eine Anfrage bezüglich der Möglichkeit, binnen kurzer Zeit 18 Nilpferdgedichte zu schreiben, ließ mich an eine Begegnung mit einem Experten für Nilpferdgedichte denken: Wjatscheslaw Kuprianow.
Eine meiner Golfgeschichten spielt auch in Russland. Sie führt drei Personen zusammen: Ruth, die aus der früheren DDR stammt und im Westen nach dem Sinn des Lebens sucht, Egon Züblikon, der ein deutscher Zöllner ist und dabei wie ein tumber Tor wirkt, aber keiner ist, und eben Kolja Kuronowski, seines Zeichens Ringer, Radfahrer und Poet, nebenbei einer der Bosse der Moskauer Unterwelt.

Es gibt in der russischen Geschichte den Begriff der 'Diebe im Gesetz', der für eine Art von Paten steht, die der organisierten Kriminalität vorstehen. Für das Klima der Geschichte spielen jedoch noch weitere - ganz unterschiedliche Bereiche - eine Rolle, über die ich im Folgenden Auskunft gebe.

Neben dem Aspekt Golf (zu meiner Erleichterung gibt es mittlerweile einen 18-Loch-Platz in Moskau - 'Le Meridien', der zu einem Luxusresort im Gebiet Nakhabino gehört, westlich der Moskauer City, im Distrikt Kransnogorsky), spielte für mich die Erinnerung an den russischen Lyriker Wjatscheslaw Kuprijanow eine Rolle, den ich im Sommer 1997 im Künstlerhaus des Landes NRW in Schöppingen traf.

Wjatscheslaw  Kuprijanow - Slawa -Slawa, wie er von den anderen Artists in residence genannt wurde, war ein freundlicher, umgänglicher Herr Ende fünfzig, zurückhaltend, aber auch sehr humorvoll. Er war damals gerade sehr erfolgreich - mit einem Lyrikband an der Spitze der SWF-Bestenliste und eingeladen zu einem Lyriker-Treffen nach Kanada. Dennoch merkte man ihm - in Gesprächen über die aktuelle Entwicklung in seiner Heimat - eine fundamentale Kränkung an, die ihm im Russland Gorbatschows widerfahren sein musste. Ich wusste, dass Slawa im kommunistischen Moskau zu den priviligierten Intellektuellen gehört hatte. Verheiratet mit einer Opernsängerin lebte er im Prominentenviertel, hielt sich aber in Distanz zum Regime.

Slawa sprach fließend deutsch. Er hatte deutsche Klassiker ins Russische übersetzt und war seinerseits in der DDR übersetzt worden. Im Russland der Vor-Gorbatschow-Ära hatte er - wie andere Dichter auch - eine beträchtliche Popularität genossen. Dies galt vor allem für sein berühmtes Hippo-Gedicht: ein vielstrophiges Poem über die 'Nilpferdisierung' des Kommunismus.

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Wjatschelaw Kuprijanow ist als ein "Autor auf Wanderschaft" bezeichnet worden. Er wurde als Sohn eines Ärzteehepaares in Novosibirsk geboren. Als er drei Jahre alt war, fiel sein Vater 1942 an der Front. Nach dem Militärdienst studierte er in Moskau Deutsch, Französisch und Linguistik. Ab 1967 war er als freier Schriftsteller und Übersetzer tätig, vor allem aus dem Deutschen (Hölderlin, Rilke, Brecht, Enzensberger u. a.).

Es liegen zahlreiche Veröffentlichungen vor und Übersetzungen in mehrere Sprachen. Kuprijanow ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.

Mit dem Ende des Kommunismus in Russland nahm bekanntlich der Reiz von Literatur als Forum für abweichende Meinungen stark ab. Slawa sah sich wie andere Künstler und Literaten gezwungen, durch die halbe Welt zu reisen, um überleben zu können. Für den Sommer 97 hatte er ein Stipendium in Schöppingen erhalten, und so lebten wir einige Zeit Tür an Tür. Zusammen gingen wir schwimmen, spielten Fussball oder Boule (manchmal auch 'en familie'). Denkwürdig wurde jener Tag, als Gia ihm eine Boulekugel auf den Kopf warf.

Dennoch gelang es uns die Arbeit an einem gemeinsamen Lyrikprogramm fortzusetzen: Angenähert an bestimmte Motive wie Nation, Generation, Heimat, Liebe, Natur stellten wir unsere oft sehr unterschiedlichen Erfahrungen gegeneinander. Wir präsentierten dieses Programm einige Male in der Öffentlichkeit des Künstlerhauses, und es waren (wie ich glaube) für alle Beteiligten beeindruckende Abende.

Er war in seiner Armeezeit zu einem Ringer ausgebildet worden, und auch jetzt noch war der untersetzte Mann in tadelloser Verfassung. Da er in Schöppingen kein Auto besaß, hatte er sich ein Fahrrad beschaft und unternahm damit abenteuerliche Ausflüge, bei denen niemand wusste, wohin ihn sein Weg führte - über den ausgedehnten Campus des Künstlerdorfes ebenso wie durchs Münsterland. Er mochte Kinder und Kinder mochten ihn.

Der Ringer

Mag sein, dass der Ringer schon etwas müde war,
als er das Fahrrad für sich entdeckte.
Am liebsten fährt er damit zwischen zwei Kämpfen
oder davor und danach.
Ein heiterer Sport, sagt er,
wenn man den Lenker nicht allzu fest hält.
Slawa2

Dabei zeigt ihn ein Foto in der Tat wie einen sizilianischen 'Paten' - und dies mag der letzte Aspekt für mich gewesen sein, ihn gewissermaßen zum physischen Vorbild für den Russen in meiner Erzählung zu machen. Er mag es mir verzeihen!

Der biografische Hinweis soll zugleich deutlich machen, dass der wirkliche Wjatscheslaw Kuprijanow nichts mit dem Kolja zu tun hat, den ich beschreibe: Kolja ist eine Transformation, die für mich schon deshalb als literarische Technik notwendig ist, weil sie mir Freiheit gewährleistet: nämlich literarisch weiter auszugreifen, als es mir der Bezug auf eine simple Realität ermöglichen könnte.

17
Dez
2008

Was mir in Erinnerung bleibt

Von meinem Golfspiel, wahrlich eine wahre Leidenschaft, wird ab dem nächsten Jahr nur der Schatten der Erinnerung bleiben. Doch was mich so bewegt hat, hat natürlich auch seinen literarischen Niederschlag gefunden. Eine Reihe von Erzählungen sind entstanden und einige Golfgedichte. Für die vielen Nicht-Golfer habe ich zum besseren Verständnis ein paar Anmerkungen angefügt.

apfelg Was mir in Erinnerung bleibt von
tausend Löchern oder mehr sind
nicht die vergeblichen Drives
doch ein paar gute Schläge
aus schlechten Lagen
eine unerwartet schöne Landschaft
wenn ich einmal aufschaute ohne
eigentliches Ziel
ein paar Runden, wenige,
an stilleren Tagen: ein Eisen 7 nur
und ohne rechte Regel
ein Schlag unter einem Apfelbaum
nachdem ich eine reife Frucht
entfernt hatte, die dem Flug des Balls
hätte abträglich sein können.

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Löcher --- verkürzt für die 18 Golfbahnen eines Platzes
Drive --- die Königsdisziplin: der Driver ist der längste Schläger mit dem größten Kopf (bis zu 500 cm³ ); mit ihm werden Abschläge zelebriert; bei Turnieren gibt es einen Sonderpreis für den Longest Drive. Gute Weiten mit dem Driver liegen zwischen 200 und 250m
ohne rechte Regel --- dem Golfsport wird das umfangreichste Regelwerk aller Sportarten nachgesagt. Der 'ambitionierte' Golfer hat auch im Privatspiel die neueste Ausgabe dieses Regelwerks bei sich -:)
reife Frucht --- als erste und wichtigste Regel beim Golf gilt, dass der Ball zu spielen ist wie er liegt; streng genommen handelt es sich also um ein widerrechtliches Entfernen eines beweglichen Hemmnisses; ein strafschlagwürdiges Vorgehen.

16
Dez
2008

Recherche

Für den Roman 'Reichstage' waren meine bisher umfangreichsten Recherchen notwendig. Der Roman spielt in der Wendezeit von 1988-90, hat mehrere Handlungsstränge und viele Schauplätze. Ich musste vor allem etwas über die offiziellen politischen Abläufe in der DDR und über den Alltag ihrer Bewohner erfahren, wobei geografisch Leipzig und thematisch das Ministerium für Staatssicherheit eine wesentliche Rolle spielten. Aber ich musste auch dem Weg meiner Helden nach Ungarn (Sopron und Budapest), nach Prag und Berlin (Prenzlauer Berg) folgen.

Eine ganz andere Recherche inhaltlicher Art ergab sich aus dem Umstand, dass meine 'Heldin' Bel Modemacherin ist. Also versuchte ich, mir alles mögliche zum Gebiet der Haute Couture anzueignen. Das ging von Hochglanzzeitschriften wie Vogue bis zu historischen Aspekten, was die Entwicklung von Modeklassikern anging, schloss aber auch ein, wie der Alltag von Modells aussieht oder wie sich eine Modemacherin jenseits der Pariser Schauen mit dem Markt herumschlägt.

Für den Roman 'Lucky in Kessel', in dem mein Held als Tankstellenpächter in die Geschichte eintritt und sich dann zu einem achtenswerten Hersteller von Vibratoren mausert, musste ich einiges über die Herstellung von handgefertigten Vibratoren in Erfahrung bringen (bestes additionsvernetzendes Silikon, sehr schwere Schwungmasse, Steuerung der Vibration durch eine intelligente Schaltung mit Mikroprozessor), ferner über Webcamgirls, Enduros und wie die politische Abteilung der Kriminalpolizei mit Hakenkreuzschmierereien umgeht.

Freilich habe ich das meiste erst recherchiert, nachdem ich die entsprechenden Kapitel schon geschrieben hatte. Das heißt: meine Arbeitsweise ist so, dass ich mir durch die Vorstrukturierung eines Themas bei Recherchen (gleich ob Stasi oder Vibrator betreffend) nicht die freie Entwicklung meiner Figuren streitig machen lassen will.

Zwar gibt es immer und auch durchaus frühzeitig wechselseitige Beziehungen durch das innere Netzwerk, das wir mit durchs Leben schleppen und das durch früher erworbenen Kenntnisse, Erfahrungen und gewiss auch durch die genetische Anlage geknüpft wird. Aber meine 'Technik' des Erzählens einer Geschichte ist eindeutig: zuerst muss sich die Geschichte aus ihren Figuren heraus entwickeln, danach überprüfe ich anhand der mir zugänglichen Fakten, wie glaubhaft ist, was ich geschrieben habe.

13
Dez
2008

Keller

'Reichstage' hat etwa 650 Seiten, ist also ziemlich umfangreich. Wenn ich eine bestimmte Stelle finden will, nutze ich die Suchfunktion die Word bietet. Ich versuche mich an einzelne prägnante Worte oder Satzteile aus dem Umfeld der Stelle zu erinnern und gebe sie ein. Für mich ist es dann manchmal sehr interessant, welche alternativen Stellen die Suchmaschine anbietet, bis sie vielleicht an der 'richtigen' angekommen ist.
Ein Beispiel: Eine Kellerszene. Bel, eine meine Hauptfiguren, präsentiert ihrem Freund und ehemaligen Liebhaber Tom den Lagerraum ihres Modeladens. Dort ist eine Wand feucht geworden. Nun will sie von Tom erfahren, wie nun am Besten zu verfahren ist. Ich wollte diese Szene dazu nutzen, eine prägende Jugenderinnerung Toms einzufügen, in der er sich an seinen ersten Kuss erinnert (der ebenfalls in einem Keller statt fand - ein Erlebnis übrigens, das schlimm ausging).

Auf dem Weg zu dieser Kellerszene kam ich an folgenden Keller-Ergebnissen vorbei, die mir die Suchfunktion anbot:

1) Frederik, ein Offizier der Staatssicherheit der DDR, erinnert sich an seine Ausbildung an der Stasi-Hochschule in Potsdam, als er die Situation Jugendlicher im Keller eines abbruchreifen Prenzlauer Berg-Hauses beschreiben muss - und für seine mitfühlende Anschaulichkeit gemaßregelt wird.
2) Bettina, eine junge Frau im Umfeld der Leipziger Basisgruppen, verguckt sich bei einem Kellerkonzert in den Saxophonisten einer Band und verbringt mit ihm am Vorabend des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Nacht – mit dem Willen, sich auch einmal so etwas wie privates Glück zu gönnen.
3) In den Kellerraum der 'Kurcoelnischen Bank', wo auch Bel ein Schließfach hat, wird eingebrochen. Auch Bels Schließfach, wo sie das Päckchen bewahrt, ist unter denen, die aufgebrochen werden
.
Soweit die wichtigsten Belegstellen für 'Keller' im Roman 'Reichstage'. Jedenfalls war ich selbst erstaunt. Man könnte die bekannte Sentenz, dass nicht der Autor selbst der beste Interpret seiner Werke ist (sondern der Leser), ergänzen durch: und die Suchmaschine.

12
Dez
2008

Die schöne Jüdin

Ich sah mich vor der Aufgabe, die Neigung meiner Hauptfigur Bel zu allem, was mit Juden zu tun hat, etwas mehr und glaubhafter auszustaffieren. Ich erinnerte mich einer Begegnung in Amsterdam und versuchte sie - vergeblich - für den Roman nutzbar zu machen. Aber auch wenn das nicht klappt, so ist es doch, wie ich finde, eine hübsche Geschichte:


Amster5 Von Dezember 2000 bis Januar 2001 war ich auf Einladung des niederländisch-deutschen Kulturaustauschs in Amsterdam. Ich wohnte in einem kleinen Apartment unter dem Dach eines alten Patrizierhauses direkt am Vondelpark, im Südwesten der Stadt. In den vier Wochen meines Aufenthalts streifte ich jeden Tag durch die Straßen und an den Grachten entlang, um zu einzelnen Orten zu kommen, die mir lieb geworden waren - oder um neue zu entdecken. So war ich häufig im Grand Café De Jaren, um dort an den Zeitungstischen bei einer Tasse Kaffee ein wenig zu lesen, das bunte Gemisch von Touristen, Studenten (der nahen Hochschule) und 'normalen' Bürgern der Stadt zu beobachten und dann mein Tagespensum von zwei, drei Seiten zu schreiben. Durch die riesige Fensterfront hatte man einen ungehinderten Blick auf die Amstel, wichtiger für mich waren jedoch Ausblicke auf die großen und kleinen Inszenierungen von Individualität im Inneren des theatergroßen Raumes.
Abends war ich manchmal im Café Americain, einem aufwändig restaurierten Art Deco-Tempel, in dem man am üppig bestückten Zeitungsdesk bei einem Glas Sauvignon Blanc Scharen von amerikanischen Sightseeing-Touristen beobachten konnte. Aber auch Banker, die sich bei Cognac und Havanna entspannt über internationale Wirtschaftsblätter beugten. Oder gut situierte Amsterdamer Familien, tief gestaffelt in mehreren Generationen und allesamt in Sonntagskleidern, die irgendeine Familienfeier begingen.
Hin und wieder zog mich auch das Kulturzentrum De Balie an. Dort war, vornehmlich bei Film- und Diskussionsveranstaltungen, ein eher intellektuelles, linksliberales Publikum anzutreffen, studentisch, alternativ, kritisch. An einem Abend war gerade eine Veranstaltung zu Palästina beendet, als ich auf dem Heimweg Richtung Vondelpark noch auf ein Glas Wein vorbeischaute.
Ich setzte mich an einen freien Tisch, holte an der Bar meinen Wein und begann zu schreiben. Immer mehr Leute strömten aus dem Veranstaltungsraum und verteilten sich im Bistrobereich. An meinen Tisch kam auf diese Weise eine etwa 40jährige Frau. Sie fragte, ob noch Platz sei, was ich bejahte. Eine ältere Frau gesellte sich zu ihr. Die beiden unterhielten sich in Englisch. Es ging um den Vortrag. Dem Gespräch war zu entnehmen, dass die Jüngere Mitglied der jüdischen Gemeinde war.
Dieser Umstand erweckte zusätzlich mein Interesse - obwohl es des Hinweises kaum bedurft hätte, denn die Frau war sehr schön, wirkte überdies sehr lebendig in ihren Gesten und hatte sichere, anmutige Bewegungen (einmal stand sie auf, um an der Bar Wein für sich und die Ältere zu holen). Sie hatte ein weites lodengrünes Cape abgelegt, als sie sich an den Tisch setzte. Darunter trug sie ein rotes Samtkostüm, das erkennbar von sehr guter Qualität war. Ihr Haar war rabenschwarz, ihre Augenbrauen ebenso betont, ihr Mund war rot geschminkt und sie hatte weiße, blendend weiße Zähne.
Irgendwann wurde die Ältere von einem bärtigen Mann weggeholt. Nach einigen stillen Augenblicken schauten wir zur gleichen Zeit auf, unsere Blicke kreuzten sich, und wir kamen mit einem Lächeln ins Gespräch. Ich sagte, dass ich Autor sei und zurzeit in Amsterdam wohnte. Sie fragte nach meinem Namen, und aus einer Laune heraus nannte ich ihr den ersten jüdisch klingenden Namen, der mir einfiel.
Sie schien einen Moment lang irritiert, dann sagte sie: "Das glaube ich nicht."
Ich fragte warum. Sie sagte: "Dann wären Sie anders. Ganz anders!"
Ich sagte: "Gut, ich weiß nicht, wer und was mein Vater war. Vielleicht war er ja ein Nazi?"
Wieder sagte sie: "Das glaube ich nicht."
Wieder fragte ich warum. Und wieder sagte sie: "Dann wären Sie anders. Ganz anders!"
Wir lachten beide. Danach unterhielten wir uns lange über Identität.
Ich sagte, dass ich zwischen bürgerlichen Werten und Ansprüchen und dem unerklärlichen Drang zu schreiben hin und her gerissen sei. Ich hätte das Gefühl, keine eindeutig lebbare Identität zu besitzen.
"Das kenne ich", sagte sie. "Das kenne ich gut. Aber anders: Ich habe immer das Gefühl gehabt, ich müsste aus meiner Identität ausbrechen, weil sie mir gegenüber so unnachsichtig war, so ausweglos. Gerade deshalb wollte ich davon weg. Allerdings wusste ich nicht wohin."
Seit einigen Jahren engagierte sie sich für die Palästinenser in den besetzten Gebieten. Esther war Juristin und mit einem Rechtsanwalt verheiratet, der eine angesehene Kanzlei in Den Haag hatte. Dort wohnte die Familie mit zwei halbwüchsigen Kindern. Wenn Esther in Amsterdam war, nutzte sie die Freiheit eines Apartments im ehemaligen jüdischen Viertel, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte.
Esther fragte mich dann nach meiner Arbeit. Ich erzählte von den 'Reichstagen', dem Roman, den ich gerade nach langen, wirren Jahren abgeschlossen hatte (in einer ersten Fassung, wie ich später feststellen musste): ein Roman, der nicht zuletzt auch von den Schwierigkeiten nationaler wie individueller Identitätsfindung handelte. Ich erzählte Esther auch, dass ich über Jahre hin die Vorstellung hatte, dass der Roman mit einem bestimmten Satz beginnen sollte:
Tom hatte eine Frau kennen gelernt, die manchmal Ladendiebstähle beging und, wenn sie erwischt wurde, behauptete, Jüdin zu sein.
Ich musste Esther den Satz und wie es dazu gekommen war, erklären. So wurde es eine lange Nacht im De Balie. Später trafen wir uns noch einige Male, wenn Esther allein in Amsterdam sein konnte. Aber das ist eine andere Geschichte.

11
Dez
2008

Schlitz ins Kleid

Ich fand für Bel, eine meiner Hauptfiguren in Reichstage, heute eine Verbindung, die von ihrer besonderen Art, Mode zu machen, zurück reicht in eine traumatische Erfahrung in ihrer Kindheit. Nebenbei ergab sich ein Verweis zu Lucio Fontana, den ich - wenn ich mich recht erinnere - zuerst im Museum Ludwig oder im Abteibergmuseum in Mönchengladbach wahr nahm. Und dann merkte ich, dass Bels Tod (dessen Imagination und Beschreibung zuerst da waren) genau in diese Motivreihung passt: Kindheitserfahrung - Fontanas Werk - Bels Modedesign - ihre Art des Todes (auch wenn das jetzt etwas mechanisch klingt).

Gearbeitet habe ich im Café. Am Ende erzähle ich der Bedienung, dass es ein guter Tag war und warum. Die junge Frau will Schauspielerin werden. Allerdings neigt sie zur Melancholie. Demnächst hat sie Prüfungen in 8 Fächern. Ich kann ihr immerhin sagen, dass sie durch den Schauspielunterricht an Form gewonnen hat (in jeder Hinsicht). Sie sagt, das hat ihr noch keiner gesagt. Sie freut sich. Irgendwann werden wir vielleicht über Literatur und Theater und das Leben reden (länger als die Halbsätze im Café, wenn schon wieder die Glocke schrillt: Der Grünkohl mit untergemengten Kartoffeln und Mettwürstchen für den älteren Professor mit seiner jungen Doktorantin). Die Schauspielschülerin sagt, dann müsse sie sich erst mal vorbereiten (was etwas bedrohlich klingt).
Am Abend auf Arte 'Lost in Translation' mit Bill Murray (als desillusionierter älterer Schauspieler) und der großartigen Scarlett Johansson (als gerade erst verheiratete junge Frau), die sich für eine Weile gemeinsam in Tokio durchschlagen. Das war ein guter Tag.

10
Dez
2008

Reichstage (2)

Nach der Fashionschau war sie verschwunden. Drei Tage lang. Dann fand man den zerfetzten Körper. Ein junges Mädchen hatte die Leiche entdeckt, flussabwärts. Der Körper hatte im Wasser gelegen und war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Vom Mund bis zur rechten Braue zog sich eine klaffende, grob perforierte Wunde. Der untere Teil des linken Arms war bis zum Ellbogen abgerissen, die Kleidung zerfetzt. Offenbar war Belle in eine oder mehrere Schiffsschrauben geraten. Am nächsten Tag berichteten die ersten Zeitungen über die Tote aus dem Rhein. Es waren, im Frühsommer des Jahres 1990, noch relativ knappe, zunächst fast gleichlautende Notizen. Es schien unklar, ob es sich um einen Unfall, Selbstmord oder um ein Verbrechen handelte.

Während Rosalind irgendetwas erzählt, folgt Tom mit wachsender Anspannung den Bewegungen in der Hotelauffahrt, als erwarte er bei jedem Wagen, der vorfährt, dass Belle aussteigen und ihm zuwinken würde. Nach dem Essen holt er Rosalinds Vuitton-Gepäck, einen mittelgroßen Koffer und eine Tasche, die sie bei der Rezeption abgestellt hat. Gemeinsam fahren sie nach oben. Er weiß, wie es ist mit dieser Engländerin zu schlafen. Dabei ist sie nicht einmal sein Typ. Sie ist nicht groß und nicht besonders schön. Sie hat ihn nie um Hilfe gebeten. Eher war es umgekehrt. Sie bedeutet ihm nichts, allenfalls diese Nähe, nach der er sich sehnt.

Es war schon nach Geschäftsschluss gewesen, ein angenehmes, warmes Licht beleuchtete die Auslagen. Kleider, Hosen, Röcke, gute Stoffe in Erdtönen, versetzt mit Materialien in Neonfarben, klassische Schnitte, verfremdet durch künstliche Risse, Perforierungen à la Fontana. Ein leichter Nieselregen zog vorbei, in einer jähen Windbö flogen Mantelschöße auf, Einkaufstüten schlugen gegen die Beine, Passanten hasteten schneller in Richtung Rudolfplatz, wo die Busse und Straßenbahnen abfuhren. Als er aufblickte, stand Belle hinter dem Fenster und schaute ihm in die Augen.

An diesem Abend war sie auf die Idee mit den lebensgroßen Zeichnungen gekommen. Sie drückte ihm den Marker in die Hand und stellte sich mit dem Rücken an die cremefarbene Rückwand des Showrooms.
„Einfach von oben nach unten!“
Eine drei Millimeter breite Linie, die der leisen Ironie in Belles Stimme gehorchte. So nah wie möglich am Körper entlang, die Rundung ihrer Achsel, sein Zeigefinger streifte Schweiß ab - war es denn so heiß? Dann, zwischen ihren Fingern, unterbrach ihn ihr Wispern: “Es kitzelt, Tom!”

Danach hielt sie wieder still. Schließlich kniete er vor ihr, den Rücken krumm wie ein chinesischer Reisbauer, den Kopf gegen ihren Schoß gedrückt, als gelte es eine besondere Stelle zu markieren. Belle stöhnte und kicherte zugleich, hielt aber die Augen geschlossen, nur ein, zwei Mal flatterten die Mascara-gefärbten Wimpern. Brave, tapfere Belle.

Danach zog sie weit schneller seine Umrisse. Für sie war es Routine, hingeworfen, die Geste des Entwurfs. Sein Körper erschien nun neben ihrem, sein Arm neben ihrem Arm, seine Hand berührte ihre Hand, auch wenn es nur der kleine Finger war, der an ihren kleinen Finger tippte, behutsam wie man eine Herdplatte prüft.
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9
Dez
2008

Reichstage (1)

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Eine kurze Einführung in den Roman und ein Prolog


ReichstageEin geheimnisvolles Päckchen, das an die falsche Person übergeben wird. Ein Offizier der Staatssicherheit, der eine Amour fou mit einem ehemaligen Model eingeht. Eine junge Frau in Leipzig, die in den inneren Kreis des Widerstands gegen das SED-Regime hinein wächst und dabei überwacht wird. Eine alleinerziehende Bankerin, die in Prag Geschäfte machen soll und nur ihre Affäre mit einem verheirateten Mann im Kopf hat…

Der etwa 700 Seiten starke Roman Reichstage ist weder Kriminal- noch Agentenroman. Er setzt im Vorfeld des Jahres 1989 ein und folgt den Ereignissen in der DDR wie auch ihrem Wiederhall in der BRD mit dem vorläufigen Schlusspunkt der Wiedervereinigungsnacht. Vor dem Hintergrund der Ereignisse, an deren Anfang der ungeklärte Tod einer jungen Frau steht, kreuzen sich – ausgelöst durch die irrtümliche Übergabe eines Päckchens - die Schicksale einer Handvoll Männer und Frauen in Ost und West.

Auch wenn die historischen Ereignisse den Hintergrund für die drei Handlungsstränge (Köln, Leipzig, Narff, eine Kleinstadt) bilden, steht doch das Schicksal der Figuren im Vordergrund: ihr Umgang mit Täuschung und Verrat, ihre Suche nach Liebe und Erfolg, Anerkennung und Glück.

‚Reichstage‘ ist, zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung, der Versuch eines deutsch-deutschen Romans.


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[Berlin, 2. Oktober 1990]
Von all den Leuten, die Javier Escalon an diesem Tag vergeblich nach einem freien Zimmer fragen, wird sich der selbstbewusste Rezeptionist des Hotels Berlin Central noch Jahre danach allein an die Frau in dem eleganten Wildlederkostüm erinnern. Freilich nicht nur, weil sie ihm, auch nach der ersten Absage hartnäckig bleibend, einen Hundert-Mark-Schein über den spiegelnden Mahagonitresen zuschiebt, sodass er entschieden seine Hände in Abwehr heben und die unschuldig-weißen Handflächen vorzeigen muss.

„Bedaure, meine Dame! Wir könnten die Zimmer vier- oder fünfmal vermieten. Da geht leider gar nichts mehr...!"
Damit schiebt er den Schein sorgfältig zurück, auf dass es alle sehen, und wendet sich nun, nach einer angedeuteten Verbeugung, anderen Gästen zu. Darunter ein Mann, der einen breitkrempigen Hut trägt und bei ihm eincheckt.
„Tom Boeder sagen Sie? Ja. Eine Suite für zwei Personen. Hatten Sie eine gute Reise? Was für ein Tag! Sogar das Wetter spielt mit. Ich sehe, Sie sind allein? Oder erwarten Sie noch jemand?“
„Vermutlich erwarte ich niemand mehr.“
„Dann haben sie Ihre Suite ganz für sich allein... Sie ist sehr schön. Ein besonders breites Bett und ein luxuriöses Bad, Sie werden ja sehen… Sie sind also allein?“
Tom Boeder schiebt den Hut mit einer ungeduldigen Geste aus der Stirn und schaut den Rezeptionisten missmutig an. „Ist das verboten?“
„Nein, um Gottes Willen! Nein! Ich bin nur ein wenig erstaunt. Wissen Sie, seit die Wiedervereinigung beschlossene Sache ist, gibt es kein freies Hotelbett mehr in der Stadt. In ganz Berlin nicht...“

Javier Escalon zeigt erneut seine unschuldig-weißen Handflächen, um ein allgemeines Bedauern auszudrücken. Er ist ein gebürtiger Spanier, mit einem scharfkantigen, gutgeschnittenen Gesicht, kurzgehaltenem Spitzbart und merkwürdig kleinen Ohren. Er trägt eine dunkelblaue Hoteluniform, von der jedoch nur die geknöpfte Weste zu sehen ist. Die Frau in dem Wildlederkostüm steht immer noch am Ende der Rezeptionstheke, halb verdeckt durch eine lärmende Gruppe US-amerikanischer Fernsehleute.

„Könnte ich nicht das freie Bett im Zimmer dieses Herrn haben?"

Die Frage ist laut vorgetragen und klingt ganz unerschrocken. Sie bewirkt, dass der Rezeptionist irritiert zu der elegant gekleideten Dame und dann wieder zu Tom Boeder schaut, unsicher, ob das ernst gemeint sein kann. Doch der nimmt seine neue ledergefasste Reisetasche, tippt leicht mit dem Zeigefinger an den Hut und geht hinüber zu dem gläsernen Aufzug, der ihn ins fünfte Stockwerk hebt.

Rosalind van Achten. Tom hat ihre Stimme erkannt. Den kräftigen, selbstbewussten Ton, unterlegt von einem kaum wahrnehmbaren englischen Akzent. Und doch hat er nicht zu ihr hin geschaut. Er weiß, dass sie ihm folgen wird.

Ein Hotel, gelegen im Bezirk Tiergarten, ganz in der Nähe von Reichstag und Brandenburger Tor. 220 Zimmer und Suiten. Und das ist also das letzte Zimmer in Berlin, denkt Tom, nachdem er die Suite betreten hat: zwei große Aussichtsfenster, dämpfende Teppichböden und Vorhänge, ein breites, gut gepolstertes Bett mit einer Ansammlung von weichen Daunenkissen, ein luxuriöses Bad mit Dusche, Wanne und Bidet. Fernseher, Minibar, Föhn. Vierhundertdreißig für eine Nacht, ohne Frühstück.

Tom, der die anstrengende Bahnfahrt von Dresden auf den Gleiskörpern der DDR-Reichsbahn hinter sich hat, lässt sich erschöpft aufs Bett fallen. Am liebsten möchte er sich ein paar Stunden aufs Ohr hauen. Warum habe ich mich darauf eingelassen? fragt er sich. Warum bin ich eigentlich hier?

Wiedervereinigung. Das bedeutet für ihn: Menschenmassen und glückliche Gesichter. Mit beidem kann er nichts anfangen. Jede Ansammlung von Menschen stößt ihn ab, als handle es sich um unbekannte Kraftfelder, von denen er schon weiß, dass sie nachteilige Wirkungen auf ihn haben werden. Ohnehin hat er keine Lust, das Hotel zu verlassen. Zugleich ist er jedoch zu unruhig, um allein zu bleiben, und so verstärkt die eigene Unentschlossenheit noch sein inneres Aufgewühlt sein.

Tom nimmt die Fernbedienung vom Nachttischchen und richtet sie auf den Fernseher, als wollte er seine Vorahnungen bestätigt sehen. Wohin er auch schaltet: auf allen Programmen kündigt sich die Wiedervereinigung an, Menschenmassen, glückliche Gesichter.
Etwas schwerfällig tappt er hinüber zu den beiden Fenstern. Sie sind nicht zu öffnen, weisen aber in Richtung Reichstag, der irgendwo nördlich liegt. Der Tag draußen erscheint noch merkwürdig ruhig, wie unter Watte, obwohl schon jetzt, am späten Vormittag, viele Menschen die Straßen in Richtung Brandenburger Tor passieren. Immer noch unruhig nimmt er wieder die Fernbedienung zur Hand. In einem der Programme sieht man eine große Tribüne, die erst in den letzten Tagen errichtet wurde. Er kann erkennen, wie dort Techniker in roten Overalls arbeiten, die letzten Vorbereitungen.

Nachdem Tom eine Weile hin und her überlegt hat, fährt er wieder hinunter in die hell erleuchtete Eingangshalle, wo ein unablässiges Kommen und Gehen herrscht. Rechts ist die langgestreckte Rezeption, links, hinter einer raumhohen Glasfront, eines der beiden Restaurants. Als ihm Essensgeruch entgegen schlägt, spürt er seinen Hunger. Seit dem Morgen hat er nichts gegessen. Doch als er nach einem Platz fragt, antwortet ihm der Ober entschieden, dass alle Tische belegt seien und zeigt zum Beweis in die weite, belebte Runde. Missbilligend mustert er den Hut, den Tom nicht abgesetzt hat.

„Sind Sie allein?“
Aber Tom ist hungrig genug, das zu verneinen. Für einen Einzelnen würde es zweifellos nichts geben. Also lässt er sich einen Tisch für vier Personen reservieren. Tom soll eine Stunde warten und setzt sich in die Halle, in einen der Lesesessel der Rezeption gegenüber, bestellt einen doppelten Espresso und blättert in den ausliegenden Tageszeitungen, die einmütig die Einheit Deutschlands für die Nacht auf den 3. Oktober ankündigen. Doch nimmt er die Schlagzeilen nur oberflächlich wahr. Sein Blick gleitet immer wieder hinüber zu den Menschen, die kommen und gehen, als wären sie an ein endloses Band gehängt. Auch hier sind zwei große Fernseher aufgebaut, der Wechsel der Bilder erkennbar am Wechsel der Helligkeit, ein Halbrund von Menschen, als suchten sie Licht.

Allmählich wird ihm klar, dass sich viele Journalisten im Hotel aufhalten, erkennbar an ihren Identitätskarten, lauten Stimmen und Taschen voller Ausrüstung. Ihre massenhafte Anwesenheit wirkt seltsam lächerlich auf ihn. Ein oder zwei Journalisten hätten zweifellos genügt für die Balkenüberschriften und die Fotos vom Reichstag, wie sie später durch die Zeitungen gehen werden. Tausend Reporter, die einige Dutzend Politiker, Künstler und Intellektuelle befragen… Bei der Vorstellung schüttelt Tom unwillig den Kopf. Warum fragt dich niemand nach Belle? denkt er. Warum ist in den Nachrichtensendungen so wenig die Rede von dem, was ich empfunden habe? Und warum sprechen die Leitartikel der Zeitungen nicht von meiner Liebe zu ihr?

Er lässt seinen Handrücken achtlos auf das Zeitungspapier fallen, es gibt einen scharfen Knall. Javier Escalon schaut von der Rezeption herüber, für einen Moment strafft sich seine Gestalt, die kleinen Augen kritisch verengt. Aber Tom merkt es nicht einmal. Er stellt sich die Schlagzeilen von Herald Tribune, Time Magazin, Le Monde vor, die von seiner Liebe zu Belle handeln. Und sie machen sich nicht schlecht. Unterhalb, an dritter oder vierter Stelle, bliebe noch Platz genug für die deutsche Einheit. Und dann sieht er sich auch in den Nachrichtensendungen der großen Sender, zur besten Sendezeit, verpackt zwischen feste Werbeblöcke, wie er sich nachlässig in einen breiten Ledersessel kauert, in der Halle eines Berliner Hotels mit mittelbarem Blick auf den Reichstag, den breitkrempigen braunen Hut mit dem umlaufenden silbergrauen Band hat er aus der Stirn geschoben, und einer dieser Reporter mit Westküstenakzent und Kaugummi in der Backentasche befragt ihn zu Belle. Und die Leute in Amerika, die eigentlich gerade zu einem Sender mit mehr Action zappen wollen, bleiben stehen, weil sie bewegt, was dieser Mann da erzählt.

Es hatte ein gewaltiges Medieninteresse gegeben, über mehrere Wochen hinweg. Belles Schönheit spielte dabei eine Rolle und natürlich der Umstand, dass sie ein Model gewesen war, mit einem gewissen Vorleben. Auch der alte Buchmann war noch eine politische Größe, an die man sich erinnerte. Die Polizei hatte sämtliche Personen in Belle Buchmanns Umfeld verhört. Man hatte die Ermittlungen bis Mailand und Paris ausgedehnt und selbst die ungarischen Behörden um Amtshilfe gebeten. Auch war es einer der ersten Fälle, bei dem die westdeutsche Justiz – gleichsam im Vorgriff auf die kommenden Verhältnisse – die Behörden in Ostberlin und Leipzig um Mitarbeit ersuchte. Doch bei den Vernehmungen und Nachforschungen kam nichts heraus, außer vielleicht Belles Vorliebe für Wagemut und ihre Probleme mit dem Gleichgewicht. Das Päckchen, von dem noch einmal die Rede war, blieb ebenso verschwunden wie das silberne Kettchen mit dem Davidstern, das sie zuletzt getragen hatte. Später sollten sich Zeugen melden, die Skinheads gesehen hatten, in der Nähe der Eisenbahnbrücke.

Als Tom nach einer Stunde das Restaurant erneut betritt, hält er den Hut in der Hand. Der Ober, dessen Gesicht südländische Züge hat und von Stress gezeichnet ist, zeigt auf einen Tisch, der gerade neu eingedeckt wird.
„Darf ich Ihnen den Hut abnehmen?“ fragt er und lässt ihn sich geben. „Vier Personen?"
Die Skepsis, ob es hier mit rechten Dingen zugeht, steht noch in seinem Gesicht, als sein ausgestreckter Arm schon den Weg zum Tisch weist.
„Vier… Ja sicher! Also, ich erwarte noch drei Damen…“, behauptet Tom. „Aber ich bestelle schon mal, wenn’s recht ist… Ich habe einfach Hunger. Was können Sie denn empfehlen? Diese verdammte Reichsbahn… Na ja, Sie wissen schon…“
Doch den Ober interessiert nicht, warum Tom hungrig ist. Unentwegt lässt er seine Blicke über die anderen Tische schweifen. Endlich verzieht er den Mund zu einem kühlen Lächeln, winkelt den linken Arm im Rücken an und leiert das Tagesmenü herunter. Drei Gänge, mit Suppe.

Tom schaut ebenfalls zu den anderen Tischen, die zumeist vollständig besetzt sind, bemerkt aber nichts Auffälliges, das ihn vom Menü abhalten könnte, und stimmt allem zu. Ohne die Suppe. Ihm steht jetzt der Sinn nach anderer Flüssigkeit. Kurz darauf wird schon das Amuse-gueule serviert, eine halbe Brotscheibe mit einem Stück gebratener Entenstopfleber. Er steckt den Happen ganz in den Mund, als könnte er damit seinen Hunger beweisen, und nippt dazu an seinem Aperitif, einem Glas Chablis, das für die Amerikaner an den umliegenden Tischen mit einem Eiswürfel serviert wird.

Als er gerade einen weiteren großen Schluck Chablis nimmt, um die Krümel wegzuspülen, geleitet der Ober Rosalind an seinen Tisch und schiebt ihr den Stuhl ihm gegenüber zu Recht.

„Nummer eins!“ sagt der Ober halblaut wie zu sich selbst und es klingt nicht unzufrieden.
Nach ihren Wünschen gefragt, antwortet Rosalind van Achten in einem Ton, der nach jahrelanger Vertrautheit klingt: "Ich nehme, was der Herr bestellt hat…!"

Zu dem auffälligen Wildlederkostüm trägt sie eine weiße Trachtenbluse mit malvenfarbener Stickerei, die sie konservativer aussehen lässt, als es zu der Situation passte. Dass sie hier ist, kann kein Zufall sein, denkt Tom. Was will sie also von ihm? Er ist kein wohlhabender Geschäftsmann. Kein Gigolo. Er hat nach wie vor ein paar Kilo zu viel. Die knochige Nase, die hohe Stirn und der mönchische Hinterkopf. Das ungesellige Wesen. Kein Journalist, die besseren Manieren, die ihm die Mutter eingetrichtert hat. Rätselhaft allein die Fingerkuppen, deren Linien grün eingefärbt sind.

Rosalind ordnet das vor ihr liegende Besteck neu, für eine Linkshänderin. Vor einem Jahr haben sie zusammen gegessen, einige Male. Er hat mit ihr geschlafen. Warum ist ihm das nie aufgefallen? Rosalind van Achten, mindestens vierzig Jahre alt, eher klein und nicht ganz schlank, mit rotblonden Haaren und grünen Augen, die Frau eines wohlhabenden Kölner Schmuckhändlers, in keiner Weise mit Belle vergleichbar, aber von englischem Geblüt.

„Warum bist du hier? Ich dachte, alles ist abgewickelt und geklärt. Ich habe das Päckchen nicht.“
„Nichts ist geklärt! Außerdem hast du das letzte freie Zimmer in der Nähe des Reichstags."
Dass es ihr nur um das Zimmer gehen könnte, ist so unwahrscheinlich, dass es ihn amüsiert.
„Warum grinst du?“
„Ich musste an einen französischen Film denken…“
„Isch liebe französische Filme!“ flötet sie. „Seit mehr als zwanzig Jahren. Aber was hast du damit zu tun?“
Tom erzählt ihr, dass in dem Film ein Berufskiller den Auftrag hat, General de Gaulle zu liquidieren, bei einer Militärparade in Paris, von einem Hotelzimmer aus.
„Willst du damit sagen, dass ich wie ein Berufskiller vorgehe?“
„Warum nicht?“
„Und wenn schon! Es gibt einen Film, da spielt Kathleen Turner einen Berufskiller in Diensten der amerikanischen Mafia. Also spricht nichts gegen diese Art von Gleichberechtigung.“

Sie lacht und ist dabei so laut, dass ihre kräftige Stimme im halben Restaurant zu hören ist. Obwohl sie nahezu akzentfrei deutsch spricht, klingt das Lachen angelsächsisch. Als ihr Amuse-gueule serviert wird, will sie es abweisen, bemerkt aber Toms gierigen Blick und lässt es ihm servieren. Wieder verspeist er es in einem Happen.

„Warum bist du in Berlin?" fragt er mit vollem Mund, als er ihren belustigten Blick bemerkt.
„Soll ich dir wirklich mein ganzes Leben erzählen?"
„Ich dachte, seit Budapest weiß ich alles über dich?“
Sie winkt ab, wieder mit einem Lachen. „Alles Lüge. Du kennst mich doch.“

Bald darauf wird mit der theatralisch-schwungvollen Geste, die auch an anderen Tischen zu beobachten war, der Hauptgang serviert. Dreierlei Pasta: Penne Rigate, Girandole, Fusilli, in den Nationalfarben eingefärbt mit Tintenfisch, Tomate, Safran, angerichtet wie eine vom Wind bewegte Fahne, deren krummen Mast gegrillte Scampi bilden. Der Ober empfiehlt dazu einen Weißwein aus der Toscana, aber die Engländerin ordert einen halbtrockenen Riesling aus dem Rheingau. Ein Glas? Nein, eine Flasche.

Rosalind schaut amüsiert auf ihren Teller. „Was machen wir mit so vielen Nationalfarben?“
„Essen!“ sagt Tom und mengt die Pasta einfach durcheinander.

Später wird als Nachspeise noch ein weiterer ‚nationaler Dialog’ gereicht: pürierte Früchte - Brombeere, Erdbeere, Birne - auf ausladenden Desserttellern malerisch ausgebreitet. Doch Tom verrührt auch seinen Fruchtbrei stoisch wie ein Kind die Farben einer Palette, während Rosalind ihm noch einmal erzählt, was er seit Budapest weiß: dass sie vor mehr als zwanzig Jahren in Berlin war, zum Höhepunkt der Studentenrevolte.

„Das wird heute eine Art Abschlussfeier für diese Jahre.“
Sie lächelt verhalten, um zu zeigen, dass sie sich zumindest selbst versteht.
„Aber du bist Engländerin! Das sind deutsche Farben. Das ist eine deutsche Abschlussfeier!“
„Wir Engländer hatten schon immer eine Schwäche für die Rheinromantik!“
„Wir sind in Berlin.“
„In Köln hat es angefangen, am Rhein.“
„Das war nicht romantisch.“
„Ich finde schon, dass es romantisch war!“ sagt sie mit einfühlsam gewordener Stimme. "Du trauerst noch um Belle, das verstehe ich. Weißt du, manchmal denke ich, sie war das perfekte Produkt ihrer selbst.“
Tom ahnt zwar, dass die Engländerin Recht hat. Dennoch sucht er entschieden nach einem Widerspruch. „Du kennst sie nicht wie ich“, sagt er schließlich. „Belle wollte immer auch etwas darüber hinaus sein."
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:::::::::::::::::::::::::::::::: Jochen Langer lebt und arbeitet als Autor in Köln. Er war als Dozent für die 'Grundlagen des Erzählens' zuständig und hat eine Vorliebe für Literaturaktionen. Zahlreiche Förderpreise und Auszeichnungen. www.jochenlanger.de ----- Seit 2009 Alltagsbetreuer für demenziell Erkrankte, Dozent an Fachseminaren der Altenpflege und Museumsführer für Demenzkranke. Gründung von dementia+art - ein Dienstleistungs-Unternehmen für 'Kulturelle Teilhabe bei demenziellen Erkrankungen und altersspezifischen Einschränkungen'. www.dementia-und-art.de

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Danke für deine Antwort,...
Danke für deine Antwort, Lady! Dass sie nie zusammen...
JochenLanger1 - 2. Apr, 23:14
Ich hätte ja gern gewusst,...
Ich hätte ja gern gewusst, wie du (und andere) das...
JochenLanger1 - 2. Apr, 17:00
Kaffeehaus-Essenz.
Auch ich habe Ihren Kommentar gerne gelesen, weil er...
JochenLanger1 - 31. Mär, 09:04
Die Reise des Helden
Nein, das ist nicht begriffsstutzig, sondern auch mein...
JochenLanger1 - 30. Mär, 21:29
Nicht für das oben beschriebene...
Nicht für das oben beschriebene Vorhaben. Ansonsten...
lamamma - 29. Mär, 23:12

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