Die folgende Szene ist für meinen Roman 'Reichstage' wichtig. Sie schildert die besonderen Umstände, unter denen Tom - der die integrative Figur des Romans ist - Belle Buchmann kennen lernt. Die Umstände sind - merkwürdig. Um sie dennoch glaubhaft zu machen, habe ich viele Überarbeitungen in diese wenigen Seiten stecken müssen.
Wichtig ist die Szene, um ein Schlaglicht auf jene Belle Buchmann zu werfen, deren Biografie sich nicht darin erschöpft, Model gewesen zu sein und jetzt Mode zu machen. Wichtig ist die Szene aber auch (wenn sie funktioniert!), um ein Schlaglicht auf deutsche Befindlichkeiten zu werfen: Die Auseinandersetzung einer nachgeborenen Generation mit den letzten Zeitzeugen des Nationalsozialismus, eine Auseinandersetzung, in der es nicht mehr so sehr um Schuld geht, sondern um individuelle und zum Teil auch gesellschaftliche Verformungen bei der 'Aufarbeitung' des Nationalsozialismus.
Und nicht zuletzt ist die Szene deshalb wichtig, weil sie - noch relativ am Anfang des umfangreichen Romans stehend - Neugier wecken soll. Voila.
Was den Roman selbst angeht, so ist das Eingangskapitel nebst einer kurzen Einleitung hier zu finden: Reichstage.
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Er hatte Belle im Frühsommer 1989 bei einem ihrer jüdischen Diebstähle kennen gelernt. Das Zusammentreffen war reiner Zufall gewesen. Als der Geburtstag seines Vaters heranrückte, wollte Tom ihm einen Pullover kaufen. Denn auf der Intensivstation war es seiner Meinung nach immer kühl. Er fuhr also in die Kölner City, da ihm zum Einkaufen die Kaufhäuser am liebsten waren, wo man ungezwungen herum streifen konnte. Rot und Grün, das waren die Farben, die der Vater besonders mochte. Grün, weil er seit mehr als dreißig Jahren Blumengroßhändler war. Rot, weil Rosen seine Lieblingsblumen waren. Auf seiner Suche war Tom schließlich in der Abteilung für Damenoberbekleidung gelandet, ohne zu wissen, was er da eigentlich wollte.
„…Jüdin!...“
Eine Frau hatte das Wort gerufen. Laut und zornig. Danach war es auffällig ruhig geworden in der Abteilung, in der sich zehn oder zwölf Kundinnen aufhielten. Wie Tom schauten sich auch die anderen suchend um. Man wollte wissen, woher das kam.
Wäre Tom ein Hund oder eine Katze gewesen, hätten sich ihm zweifellos die Nackenhaare aufgestellt, als ein Warnsignal für Gefahr. Er hatte unwillkürlich das Gefühl, jemandem helfen zu müssen, wusste aber nicht, um was es eigentlich ging und ob er überhaupt helfen konnte. Vor allem aber kam ihm diese Umgebung für einen Begriff wie Jüdin unpassend vor.
Dabei war es banal: Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine Frau, die einen teuren Pullover geklaut haben sollte. Sie war erwischt worden und hatte in dem folgenden kurzen Wortgefecht zu der Verkäuferin gesagt, dass sie Jüdin sei, sodass es nun wie eine Schutzbehauptung klang.
Als Tom es hörte, schüttelte er ungläubig den Kopf. Zugleich musste er grinsen. Wer sagt denn so was? dachte er, empfand aber auch eine gewisse Hochachtung: denn sollte das ein Trick sein, war er verdammt gut! Und da ihm in seinem Alltag noch nie ein Jude oder eine Jüdin über den Weg gelaufen war, wurde nun seine Neugier, wie das hier ausgehen würde, noch größer.
Die Frau selbst war groß, wahrscheinlich etwas größer als er selbst, und ungewöhnlich schön. Sie hatte dichtes schwarzes Haar, in einer glänzenden Fülle, die ihn gleich an Fernsehwerbung für irgendwelche teuren Haarshampoos erinnerte. Sie war auffallend perfekt und doch nicht übertrieben geschminkt, in hellen Braun- und Rottönen. Sie trug ein erkennbar teures Kostüm, das ebenfalls mit verschiedenen Rottönen spielte, und hielt eine große flache Tasche unter dem Arm, deren rot eingefärbtes Leder mit groben Noppen versehen war.
All das und der angebliche Diebstahl – das passte irgendwie nicht zusammen. Jedenfalls schaute Tom wie gebannt auf den Mund und die makellos weißen Zähne dieser Frau, um jedes Wort mitzubekommen, als sie der untersetzten dicklichen Verkäuferin nicht gerade leise ihren Standpunkt klar machte.
„Ich finde es echt heavy, dass ich in einem deutschen Kaufhaus verdächtigt werde, etwas gestohlen zu haben!“ fasste sie ihre Empörung mit einer klaren, angenehm modulierten Stimme noch einmal zusammen. „Ausgerechnet in einem deutschen Kaufhaus! Das ist einfach lächerlich! Das habe ich weiß Gott nicht nötig. Aber als Jüdin, muss ich wohl davon ausgehen, dass das ein wohlüberlegter Angriff ist. Doch ich werde das nicht stillschweigend hinnehmen. Ich lasse mich jedenfalls nicht ausziehen oder vorführen und visitieren wie bei einer Selektion!“
Tom lief eine Gänsehaut über den Rücken, als er das Wort Selektion hörte. Irritiert stellte er fest, dass sein diffuses Gefühl des Unbehagens dabei war, sich in ein Schuldgefühl zu verwandeln. Auf den Gesichtern vieler Umstehender - auf denen zuvor eher Neugier oder die Erwartung einer handfesten Auseinandersetzung zu finden war -, las er, dass es ihnen ähnlich erging.
Inzwischen war der Abteilungsleiter aufgetaucht, ein mittelgroßer schmächtiger Mann in einem modisch geschnittenen dunklen Anzug und klobigen braunen Schuhen. Die kurzen Haare waren mit Gel zusammengeklebt und in die Höhe gesträhnt, seine Gesichtshaut war in einer aufdringlichen Weise gebräunt, die nur von der Sonnenbank stammen konnte.
Von den umstehenden Frauen hatten sich mittlerweile einige zu Wort gemeldet, etwas dazwischen gerufen und auch untereinander Ansichten getauscht.
„Ich habe da ein ganz schlechtes Gefühl bei…!“ hatte die Älteste gesagt und ihren Kopf gewiegt, der ganz graue Haare hatte. Sie war etwas pummelig und trug eine kleine Handtasche unter dem Arm geklemmt. „Ich finde, wir haben ihnen genug Leid angetan, egal, was die junge Frau hier getan haben soll...“
„Also Diebin ist Diebin! Und die ehrlichen Kunden müssen die Zeche zahlen! Das kennt man ja. So einfach ist das!“ antwortete die Frau neben ihr, die ein wenig jünger sein mochte. Sie war einen halben Kopf größer und trug einen strengen Ausdruck in ihrem mageren Gesicht zur Schau.
Ein junges Mädchen, dem diese Strenge nicht gefiel, rief dazwischen: „Ist ja nicht erwiesen, dass sie schuldig ist. Spielt aber auch keine Rolle, das ist schon wahr.“ Mit dem letzten Satz wollte sie der Älteren zustimmen, die gesagt hatte „wir haben ihnen genug Leid angetan…“
Eine aufgedonnerte Dicke in einem knallbunten weiten Kleid mit tiefem Ausschnitt schnaubte, als sie die vermeintliche Diebin in den Blick nahm, sagte dann aber mit einem weiteren verächtlichen Geräusch: „Also, man weiß ja: das Personal kriegt jedes Mal eine Belohnung, wenn die nen Dieb schnappen. Und nicht zu knapp. Da muss man sich nicht wundern. Für Geld tun die Leute alles. Das war schon damals so!“
Das sagte sie in einem schnippischen Ton, als hätte man das ihr gegenüber bisher bestritten. Dabei schaute sie niemanden an, vor allem die Verkäuferin nicht, die nun empört und mit halboffenem Mund in ihre Richtung starrte, unfähig etwas zu erwidern.
„Ich würde das nicht tun“, pflichtete die Älteste der aufgedonnerten Dicken bei. „So was tut man nicht, oder?!“
Der Abteilungsleiter hatte sich mehrfach suchend umgedreht, als erwarte er noch jemanden, der ihm vielleicht zu Hilfe käme. Dann fragte er schmallippig und unzufrieden die Verkäuferin, was hier eigentlich los sei.
Während er eine verwirrende Zusammenfassung der Verkäuferin anhörte, die noch empört darüber war, dass man ihr Geldgier unterstellt hatte, musterte er die angebliche Diebin, strich sich nervös über sein gestyltes Haar, das danach platt und wirr auf dem Schädel lag, schaute wieder zu der Frau hin, öffnete den Mund, sagte aber nichts, als suche er noch nach der richtigen Formulierung - und begann sich endlich zu entschuldigen.
Danach sorgte er mit barschen Anweisungen dafür, dass sich auch die Verkäuferin, deren Gesicht vor Aufregung stark gerötet war und der Tränen der Empörung in den Augen standen, vor den Umstehenden entschuldigte. Für Tom war es, als existiere eine spezielle Anweisung der Geschäftsführung für solche Fälle.
Die angebliche Diebin nahm nach ihrem Lamento die Entschuldigung mit einem stillen, zufriedenen Lächeln entgegen, als wollte sie sagen: ‚Na gut, diesmal lasse ich es euch noch durchgehen!‘ und bahnte sich dann einen Weg durch die Zuschauer, die wortlos zurückwichen, um ihr Platz zu machen. Tom ging einfach hinter ihr her. Draußen, auf der belebten Schildergasse, brachte er sich mit ein paar schnellen Schritten auf gleiche Höhe.
"Das war sehr selbstbewusst vorhin. Ich habe noch nie eine Jüdin kennen gelernt; schon gar keine, die klaut..."
Sie blieb kurz stehen, musterte ihn abschätzig, schaute sich um, als wollte sie sich vergewissern, ob das wirklich alles sei, und sagte im Weitergehen: "Du meinst, für eine Jüdin? Ich bin nicht immer Jüdin."
"Also ein Trick?"
Mit dem Kinn wies sie energisch voraus in eine ruhigere Seitenstraße. Tom folgte ihr bis zu einem Café, wo sie sich draußen an ein Tischchen unter einer Markise setzten. Die Frau schlug die Beine übereinander, erst rechts, dann links, dann zog sie die spitz zulaufenden dunkelbraunen Schuhe von den Füßen und massierte ihre Zehen, deren Nägel sorgfältig pedikürt und dunkelrot lackiert waren. Tom sah, dass selbst die Füße dieser Frau außergewöhnlich schön waren.
Sie bestellten zwei Espressos - mehr Zeit, das gab sie ihm zu verstehen, war nicht.
"Vielleicht ist es ja kein Trick?"
"Und wenn ich Jude wäre?"
Er hatte sich das überlegt. Für einen Moment schien sie wirklich überrascht.
"Oh lala!" rief sie laut. Dann schaute sie etwas übertrieben rechts und links an seinem Kopf vorbei: "Aber deine Nase ist gerade...", stellte sie mit einem feinen Lächeln fest.
"Und meine Ohren stehen nicht ab. Aber das hätte ich verändern lassen können."
„Das stimmt“, sagte sie, wieder ernst geworden. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. "Ich werde jetzt trotzdem gehen."
„Dann warst du erfolgreich?“
„Wie man ’s nimmt.“
"Du siehst nicht so aus, als ob du das nötig hättest…?"
"Mag sein."
Sie beugte sich zu ihrer Schultertasche, öffnete den Reißverschluss und zog einen Cashmere-Pullover hervor. Er war rot und hatte ein beachtliches Dekolleté. Das Sicherungsetikett war mit einem rabiaten Schnitt schräg in den Körper heraus geschnitten worden, so breit und umfangreich, dass der Pullover unmöglich noch zu tragen war. Doch nun machte die Frau etwas Seltsames: Mit beiden Händen hielt sie den Pullover hoch, um in das entstandene Loch schauen zu können, als wollte sie etwas aufspüren, das vielleicht dahinter lag.
„Zieh es an!“
Sie schaute ihn mitleidig lächelnd an, als wollte sie sagen: ‚Du hast ja keine Ahnung, mein Junge!‘.
„Ich muss das Ding erst noch bearbeiten“, beschied sie ihm immerhin.
"Willst du das Loch etwa stopfen oder reparieren?“
„Nein. Der Pullover ist scheußlich. Ich werde ihn zerschneiden und nur das Material verwenden.“
„Das verstehe ich nicht…?“
„Brauchst du auch nicht!“
„Wie heißt du?“
„Belle.“
„Ich heiße Tom. Gibst du mir deine Nummer?"
"Sicher nicht!"
Tom beeilte sich, ein paar Ziffern auf den Kassenbon zu werfen und schob ihn zu ihr hin. Belle schob ihn umgehend zurück.
"Ich rufe niemals Männer an!"
Tom folgte ihr. Erstens, weil sie gut aussah - was die Untertreibung des Jahrhunderts war. Zweitens, weil er die Nummer mit der Jüdin für deutsche Verhältnisse originell fand. Und drittens, weil sie ihn an ein Mädchen in seiner Kindheit erinnerte. Das lag zwar mehr als 20 Jahre zurück, und seltsamerweise konnte er sich nicht einmal an den Namen des Mädchens erinnern, aber sie hatte diese besondere Anne-Frank-Frisur gehabt: schwarzes, ungemein dichtes, schulterlanges Haar, das ein blasses Gesicht umrahmte. Sie war neu an seiner Schule gewesen und hatte ihn eines Tages zu sich eingeladen, sodass er nachmittags zu dem Haus marschiert war, wo sie wohnte.
Der zehn- oder elfjährige Junge, der er damals war, lief mit Mecki-Haarschnitt und kurzen Hosen herum. Tom sah sich mit den Armen scheinbar sorglos in Hüfthöhe schlenkern, während er lässige, weit ausgreifende Cowboyschritte machte. Doch sein Herz schlug wild, und er wusste nicht, wie er das abstellen konnte. Das Mädchen holte ihn am Gartentor ab. Tom folgte ihr durch den großen Garten, in dem es viele Obstbäume gab. Er bewegte sich nun schon viel zögerlicher und sie ermahnte ihn mehrmals, sich zu beeilen …
Daran musste Tom denken, als er dieser Frau in westlicher Richtung folgte, über den Ring, bis ins Belgische Viertel. Auch jetzt trugen ihn weit ausgreifende Schritte voran, auch jetzt schlug sein Herz wild, und er wusste immer noch nicht, wie er das abstellen konnte. Am Brüsseler Platz verschwand sie in einem Haus, in dessen Erdgeschoss eine Boutique untergebracht war. 'Belle Buchmann. Mode' stand in schräger Neonschrift über dem Laden.
Tom lachte laut auf, als er es las. Das und ihre 'jüdischen' Diebstähle passten nicht zusammen.
In den nächsten Tagen, wenn Tom mit der Arbeit fertig war, fuhr er zu Belle Buchmanns Laden, setzte sich auf das breite Fenstersims des rechten Schaufensters und blieb dort, bis Belle den Laden schloss und, scheinbar ohne ihn zu beachten, an ihm vorbei zur nächsten U-Bahn-Station ging. Susan und Kayo, die in der Regel vorher das Geschäft verließen, warfen im Vorbeigehen mit einem kaum unterdrückten Kichern neugierige Seitenblicke auf die komische Gestalt. Nach einigen Tagen (es hatte auch zwei Nachmittage mit Dauerregen und peitschenden Windböen gegeben und Tom sah danach aus wie ein Seehund, der gerade aus seinem Becken im Kölner Zoo geglitten war) merkte man ihren Blicken so etwas wie Mitgefühl an.
In der zweiten Woche, als es auch am späten Nachmittag noch über 30 Grad heiß war, erschienen die beiden formell wie bei einer Teezeremonie mit einem Glas eisgekühlten Zitronentee. Aber Zitronentee war nicht das, was er wollte.
Zu Anfang der dritten Woche stand Belle plötzlich in der Tür und winkte ihn mit einer leicht ironischen Geste herein. Dabei musterte sie ihn, als wären sie sich eben erst begegnet. Wie fast immer trug Tom Jeans und ein grün-gelb (oder ein blau-grün oder ein rot-blau) gestreiftes T-Shirt sowie dunkelgraue, knöchelhohe Sportschuhe. Es war kurz vor Geschäftsschluss.
Als er die ungewöhnliche Einrichtung des Ladens sah und die aufgereihten, zweifellos teuren Kleider, sagte er etwas bekümmert: „Ich krieg schon Probleme, wenn ich einen roten oder grünen Pullover kaufen soll...“
Aber Belle lachte. Und so erzählte er ihr, warum er im Kaufhaus gewesen sei, freilich ohne die Intensivstation zu erwähnen. Belle zeigte ihm an diesem späten Nachmittag bei einem Glas Wein ihre Arbeiten und einige neue Entwürfe. Tom schaute sich alles aufmerksam an, innerlich strahlend vor Zufriedenheit, ohne im engeren Sinne etwas davon zu verstehen.
Vielmehr sagte er mit Blick auf das alles wie zur Entschuldigung: „Also, das ist sehr schön und diese Stoffe sind unglaublich. Wie sich das anfühlt! Unglaublich! Das ist was anderes als Jeans und T-Shirts. Allerdings verstehe ich nichts von Mode, weißt du.“
Belle überhörte es, wollte es überhören und lächelte milde. Geschmeichelt von Toms großer Beharrlichkeit, die selbst ihr so noch nicht begegnet war, war sie immerhin neugierig geworden. Irgendwann – nach einer Reihe solcher Abende - nahm sie ihn mit zu sich nach Hause. Für eine Weile lief es gut.
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