Die schöne Jüdin

Abends war ich manchmal im Café Americain, einem aufwändig restaurierten Art Deco-Tempel, in dem man am üppig bestückten Zeitungsdesk bei einem Glas Sauvignon Blanc Scharen von amerikanischen Sightseeing-Touristen beobachten konnte. Aber auch Banker, die sich bei Cognac und Havanna entspannt über internationale Wirtschaftsblätter beugten. Oder gut situierte Amsterdamer Familien, tief gestaffelt in mehreren Generationen und allesamt in Sonntagskleidern, die irgendeine Familienfeier begingen.
Hin und wieder zog mich auch das Kulturzentrum De Balie an. Dort war, vornehmlich bei Film- und Diskussionsveranstaltungen, ein eher intellektuelles, linksliberales Publikum anzutreffen, studentisch, alternativ, kritisch. An einem Abend war gerade eine Veranstaltung zu Palästina beendet, als ich auf dem Heimweg Richtung Vondelpark noch auf ein Glas Wein vorbeischaute.
Ich setzte mich an einen freien Tisch, holte an der Bar meinen Wein und begann zu schreiben. Immer mehr Leute strömten aus dem Veranstaltungsraum und verteilten sich im Bistrobereich. An meinen Tisch kam auf diese Weise eine etwa 40jährige Frau. Sie fragte, ob noch Platz sei, was ich bejahte. Eine ältere Frau gesellte sich zu ihr. Die beiden unterhielten sich in Englisch. Es ging um den Vortrag. Dem Gespräch war zu entnehmen, dass die Jüngere Mitglied der jüdischen Gemeinde war.
Dieser Umstand erweckte zusätzlich mein Interesse - obwohl es des Hinweises kaum bedurft hätte, denn die Frau war sehr schön, wirkte überdies sehr lebendig in ihren Gesten und hatte sichere, anmutige Bewegungen (einmal stand sie auf, um an der Bar Wein für sich und die Ältere zu holen). Sie hatte ein weites lodengrünes Cape abgelegt, als sie sich an den Tisch setzte. Darunter trug sie ein rotes Samtkostüm, das erkennbar von sehr guter Qualität war. Ihr Haar war rabenschwarz, ihre Augenbrauen ebenso betont, ihr Mund war rot geschminkt und sie hatte weiße, blendend weiße Zähne.
Irgendwann wurde die Ältere von einem bärtigen Mann weggeholt. Nach einigen stillen Augenblicken schauten wir zur gleichen Zeit auf, unsere Blicke kreuzten sich, und wir kamen mit einem Lächeln ins Gespräch. Ich sagte, dass ich Autor sei und zurzeit in Amsterdam wohnte. Sie fragte nach meinem Namen, und aus einer Laune heraus nannte ich ihr den ersten jüdisch klingenden Namen, der mir einfiel.
Sie schien einen Moment lang irritiert, dann sagte sie: "Das glaube ich nicht."
Ich fragte warum. Sie sagte: "Dann wären Sie anders. Ganz anders!"
Ich sagte: "Gut, ich weiß nicht, wer und was mein Vater war. Vielleicht war er ja ein Nazi?"
Wieder sagte sie: "Das glaube ich nicht."
Wieder fragte ich warum. Und wieder sagte sie: "Dann wären Sie anders. Ganz anders!"
Wir lachten beide. Danach unterhielten wir uns lange über Identität.
Ich sagte, dass ich zwischen bürgerlichen Werten und Ansprüchen und dem unerklärlichen Drang zu schreiben hin und her gerissen sei. Ich hätte das Gefühl, keine eindeutig lebbare Identität zu besitzen.
"Das kenne ich", sagte sie. "Das kenne ich gut. Aber anders: Ich habe immer das Gefühl gehabt, ich müsste aus meiner Identität ausbrechen, weil sie mir gegenüber so unnachsichtig war, so ausweglos. Gerade deshalb wollte ich davon weg. Allerdings wusste ich nicht wohin."
Seit einigen Jahren engagierte sie sich für die Palästinenser in den besetzten Gebieten. Esther war Juristin und mit einem Rechtsanwalt verheiratet, der eine angesehene Kanzlei in Den Haag hatte. Dort wohnte die Familie mit zwei halbwüchsigen Kindern. Wenn Esther in Amsterdam war, nutzte sie die Freiheit eines Apartments im ehemaligen jüdischen Viertel, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte.
Esther fragte mich dann nach meiner Arbeit. Ich erzählte von den 'Reichstagen', dem Roman, den ich gerade nach langen, wirren Jahren abgeschlossen hatte (in einer ersten Fassung, wie ich später feststellen musste): ein Roman, der nicht zuletzt auch von den Schwierigkeiten nationaler wie individueller Identitätsfindung handelte. Ich erzählte Esther auch, dass ich über Jahre hin die Vorstellung hatte, dass der Roman mit einem bestimmten Satz beginnen sollte:
Tom hatte eine Frau kennen gelernt, die manchmal Ladendiebstähle beging und, wenn sie erwischt wurde, behauptete, Jüdin zu sein.
Ich musste Esther den Satz und wie es dazu gekommen war, erklären. So wurde es eine lange Nacht im De Balie. Später trafen wir uns noch einige Male, wenn Esther allein in Amsterdam sein konnte. Aber das ist eine andere Geschichte.