Die Arbeit an

30
Mrz
2009

Was tun?

Ich habe mir für den Wochenanfang - wieder einmal - wichtige, unumgängliche Strukturarbeiten vorgenommen. Mein Roman 'Reichstage' ist sehr umfangreich, hat drei Handlungsstränge, die miteinander verflochten sind, und erzählt vor dem Hintergrund der Wendejahre das Schicksal einer Handvoll Menschen in Ost und West. So weit.

Nach wie vor habe ich jedoch große Probleme damit, vor allem den Anfang des Romans (sagen wir: die entscheidenden ersten 50 Seiten) zu strukturieren. Um es deutlicher zu machen: die Handlung, die Figuren, die Texte - all das ist längst vorhanden.
Die Frage ist eine dramaturgische: wie setze ich sie ein?

Vertraue ich auf einen spannenden Plot und schiebe die biografische Unterfütterung der Figuren allmählich (d. h. auf den nächsten 500 Seiten) nach - das ist der Stand der Dinge. Oder stelle ich - nach einem Prolog, der das Romangeschehen im Rückblick umreißt und Spannung aufzubauen versucht - etwas altmodisch erst einmal die Figur der Heldin vor... - mit der Gefahr, dass der Leser ungeduldig wird...?
Den Prolog-Anfang von Reichstage findet man hier

25
Mrz
2009

Augenzeugenberichte 1989/2009

Arpad Bella erinnert sich noch genau an die ersten Worte seiner Frau, als er am Abend des 19. August 1989 durch seine Haustür im ungarischen Sopron trat. Sie fragte: „Wer soll für die Familie sorgen, wenn du im Gefängnis sitzt?“ Bellas Frau und Töchter hatten die Ereignisse des Nachmittags am Fernseher verfolgt. Chaos an der Grenze! Hunderte Bürger der DDR flüchten in den Westen! Diese Schlagzeilen hatten sie in Angst versetzt. Denn mittendrin war ihr Mann und Vater. Arpad Bella, Offizier der ungarischen Grenztruppen, dessen wichtigste Aufgabe es war, alles unter Kontrolle zu behalten. Doch genau das misslang ihm am 19. August 1989... (Bericht: Nicholas Brautlecht)

Das Goethe-Institut bietet zur 20jährigen Wiederkehr der Wendezeit eine Online-Seite an mit Augenzeugen-Berichten vor allem zu Ungarn/Sopron und zu Leipzig. Zum Beispiel einen Bericht über den ungarischen Grenzoffizier Arpad Bella, der am 19. August 1989 nicht eingriff, als fast 1000 DDR-Bürger das Picknick für die Freiheit bei Sopron zum illegalen Grenzübertritt nutzten.
Zu finden ist das sehr anschauliche Material hier

25
Feb
2009

Aus alt mach neu - Handwerk in der (Selbst)Kritik

Johanna Schwerin (die Hauptfigur eines der drei Teile meines Romans 'Reichstage', eine Bankerin, die ihre dreijährige Tochter allein erzieht) und Grasshoff, ein Textilunternehmer vom Niederrhein, für den sie ein Projekt betreut, sind Ende September 1989 in Prag, um einen Joint-Venture-Vertrag mit dem tschechoslowakischen Staat zu unterzeichnen. Sie wollen die Gelegenheit nutzen, um sich die Situation der DDR-Flüchtlinge in der bundesrepublikanischen Botschaft anzusehen, die zu dieser Zeit durch alle Medien geht.

Als sie vor Ort - d.h. an der Rückseite der Botschaft sind - kommt es zu einer absurden Situation, die ich, mit etwas Abstand, für nicht genug 'begründet' hielt. (Version 1)
Also versuchte ich den Kontext so zu gestalten, dass die absurde Situation als etwas durchaus Vorstellbares erscheint, bzw. dass den beiden kaum etwas anderes übrig bleibt als das zu tun, was sie dann tun...

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(Version 1)

Ein Polizist in Uniform - es war András, der sich ein Herz genommen hatte -, schnauzte sie jetzt an, dass sie verschwinden sollten. Vielleicht hielt er sie für Ostdeutsche. Jenseits des Zauns kamen drei junge Männer heran. Auch sie in Freizeitkleidung.

„Wollt ihr rüber? Kümmert euch nicht um den Clown. Klettert einfach rüber. Wir helfen euch.”

Seltsamerweise drehte der Polizist wie auf ein Stichwort ab, als sei er es leid, immer wieder dasselbe tun zu müssen. Im Gehen wendete er sich noch einmal um und machte eine wegscheuchende Bewegung, die aber nur aus den Handgelenken kam. gesellte er sich zu einer Gruppe Uniformierter an der nächsten Ecke. Er zog die Mütze vom Kopf und sagte etwas. Die anderen lachten rau in kurz aufeinander folgenden Wellen. Trotzdem wirkte es resigniert. Johanna und Grasshoff schauten sich verblüfft an.

„So sind die Kerle hier.” rief einer durch den Zaun. “Schnell mürbe, die Brüder.”
„Macht ihr nüber oder nich, junge Frau? Nur Mut: Hier drinne is allet immer noch besser als in dieset Scheißland.”
„Kein sozialistischer Boden mehr.”

Grasshoff schaute sie an: Nicht lange überlegen. hieß das. Wird schon gut gehen.
Johanna hatte die Rost schwitzenden Eisenstäbe gepackt und ließ sich von Grasshoff helfen, der die Hände zu einer Trittstufe verschränkte. Johanna wollte sich hochziehen. Aber das war gar nicht so einfach. Warum bin ich nicht beweglicher. dachte sie und riskierte einen Blick zu den Polizisten, die aufmerksam geworden waren und nun ihrerseits in ihre Richtung schauten.

„Schnell.” rief Grasshoff.
In Johanna stieg Panik auf: Sie hatte zu wenig Bewegungsfreiheit in ihrem Kostümrock. Am liebsten wäre sie wieder hinunter - wäre es nicht ihr Vorschlag gewesen, zur Botschaft zu fahren und wäre da nicht die Sorge gewesen, sich vor Grasshoff zu blamieren. Versuchsweise strampelte sie mit den Beinen und verlor dabei ihre Schuhe. Die Jacken, eine praktische Eingebung, hatten sie vorweg durch die Stäbe gereicht. Grasshoff packte mit beiden Händen unter ihren Hintern, hob und schob, dass sie dachte: Oh Gott. Aber wie durch ein Wunder, so kam es ihr vor, erreichte sie die spitzenbewehrte Höhe. Oben hockte sie fast bewegungslos vor Angst, sich zu verletzen. Aber wie durch ein Wunder waren nun gleich die jungen Männer zur Stelle, um zu helfen. Einer stand auf einem Tischchen, das eilig herangetragen worden war.

„Nur ruhig, junge Frau. Gleich is jeschafft.”
Als er sie zu sich herunterhob, gab es einen scharfen Riss: Johannas Kostümrock hatte nun einen neuen hoch angesetzten Seitenschlitz. Ihr schoss Bel Buchmann durch den Kopf: was würde die wohl zu diesem neuen Schnitt sagen? Grasshoff strampelte noch am Gitter. Mit hochrotem Kopf und vortretenden Halsadern zog er sich hinauf. Die jungen Männer nahmen ihn in Empfang.

„Man wird unbeweglich.” keuchte er, als er endlich neben ihr stand.
„Wir müssen verrückt geworden sein.”
„Hab ich auch gedacht - aber da waren Sie schon drüben: Ich konnte Sie doch nicht allein lassen.”
Einige der jungen Männer hatten sich vor ihnen aufgebaut.
„Wo kommt ihr denn her?”


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(Version 2)

Ein Polizist in Uniform - es war András, der sich wieder auf seine Pflichten besonnen hatte -, schnauzte sie jetzt an, dass sie verschwinden sollten und breitete seine kurzen Arme aus, um sie weg zu scheuchen. Wahrscheinlich hielt er sie für Ostdeutsche. Von der Botschaftsseite her kamen drei junge Männer heran, die sich laut unterhielten, aber das Geschehen am Zaun im Auge behielten. Auch sie wie die meisten in Freizeitkleidung. In diesem Moment bog im Laufschritt eine große Gruppe in den Weg ein, gewiss zehn oder zwölf Personen, Männer, Frauen, Kinder, die, als sie auf der Höhe von Johanna und Grasshoff waren, gleich begannen, am Gitter hoch zu klettern. Vom anderen Ende des Weges lösten sich jetzt einige Uniformierte, um András zu unterstützen, der angesichts der Übermacht abgedreht hatte.

Die drei jungen Männer hatten einen Tisch geholt und direkt am Zaun aufgestellt. Einer von ihnen, der sehr kräftig aussah, mit roten Haaren und einer Tätowierung am Oberarm, schwang sich hinauf, um zu helfen.

„Kümmert euch nicht um die Clowns!“
„Klettert einfach rüber!“
„Wir helfen euch. Na los!”

Inzwischen wurde András von der Gruppe Uniformierter in die Mitte genommen. Er zog die Uniformmütze vom Kopf, schlug sie gegen seinen Oberschenkel und sagte etwas. Die anderen lachten rau, in kurz aufeinander folgenden Wellen. Es klang resigniert. Dann schienen sie sich zu beraten.

Johanna und Grasshoff waren von den Neuangekommenen ganz umringt und an den Zaun gedrängt worden. Um sie herum war ein unübersichtliches Gemenge von sich reckenden Armen und scharrenden Füßen. Überall lagen Gepäckstücke, über die man stolpern konnte.

„Nur Mut!“ schrie jemand. „Hier drinne is allet immer noch besser als in dieset Scheißland!”
Plötzlich war eine Frau direkt neben Johanna, stieß sie heftig gegen den Oberarm und schrie sie wütend an: „Na los! Kein sozialistischer Boden mehr. Frei sein! Worauf wartest du, du dumme Kuh!“
„Macht ihr nüber oder nich, junge Frau?“
Einer der jungen Männer hatte sie direkt angesprochen. Johanna stand unmittelbar am Zaun, wusste nichts zu antworten und fühlte Panik aufsteigen. Wo war Grasshoff? Sie konnte ihn nicht sehen. Hinter ihr war ein Handgemenge mit den Polizisten im Gange. Nachher schießen die noch! dachte sie. Tschechische Befehle, unmittelbar an ihrem Ohr. Sie bekam einen Tritt gegen ihre Kniekehle, der sie fast hätte zu Boden gehen lassen. Nur nicht hinfallen! Sie hatte Angst und musste an Zazie denken. Und dann hatte sie die Mutter mit dem Kind vor Augen und den grässlichen Dialekt im Ohr. Und wieder jagte ihr die Erinnerung einen Schauder über den Körper. Sie konnte Grasshoff immer noch nicht sehen. Als sie nach ihm rief, merkte sie, dass durch das laute Geschrei um sie herum, eine Verständigung kaum noch möglich war.

Wieder erhielt sie einen heftigen Stoß von hinten. Sie klammerte sich an den Gitterstäben fest, um nicht zu fallen. Dann fühlte sie plötzlich kräftige Hände, die sie umfassten und hochhoben. Zugleich sah sie Grasshoff, der die Hände zu einer Trittstufe verschränkte. Ohne zu überlegen, schob Johanna den linken Fuß vor und versuchte sich hoch ziehen. Warum bin ich nicht beweglicher, dachte sie ächzend. Jemand versuchte, sie wieder herunter zu ziehen. Sie schrie auf und hielt sich an den rostigen Gitterstäben fest, mehrere Hände schoben sich nun unter ihren Hintern und hoben sie kräftig an. Oh Gott, was tue ich hier? dachte sie, als sie merkte, wie sie an Höhe gewann, schwankend, nur nicht nach rückwärts fallen. Wie durch ein Wunder erreichte sie die Zaunhöhe. Oben blieb sie vor Angst, sich an den spitzen Gitterenden zu verletzen oder herunter zu fallen, hocken... Sie sah, dass die Polizisten sich zurück gezogen hatten. Allerdings konnte sie nicht mehr zurück: hinter ihr kletterten schon ein Mann und die Frau, die sie gestoßen und böse angezischt hatte, am Zaun hoch.

„Na los, du fette Wachtel! Wenn du da nicht mehr runter kommst, helf ik dir!“ schrie die Frau jetzt erbost darüber, dass Johanna ihr schon wieder im Weg war.
Johanna war klar, dass sie das wirklich tun würde. Aber durch ein weiteres Wunder war der Rothaarige da, um ihr herunter zu helfen.
„Nur ruhig, junge Frau. Gleich is jeschafft.”

Als er sie zu sich herunter hob und zog, gab es einen scharfen Riss, der dem leichten geblümten Baumwollrock, den Johanna trug, einen hoch angesetzten Seitenschlitz verpasste. Was würde Bel Buchmann dazu sagen? Der plötzlich auftauchende Gedanke belustigte Johanna ungeachtet der Situation, in der sie sich befand, sodass sie laut kicherte. Ja, dachte sie noch: sie hatte das Kleid schon mal sehen!

Als sie sich umdrehte, bemerkte sie, dass auch Grasshoff am Gitter strampelte. Mit hochrotem Kopf und vortretenden Halsadern zog er sich hinauf. Die jungen Männer nahmen auch ihn in Empfang.

„Man wird unbeweglich”, keuchte er, als er endlich neben ihr stand.
„Wir müssen verrückt geworden sein. Komplett verrückt!”
„Hab ich auch gedacht - aber da waren Sie schon drüben. Ich konnte Sie doch nicht allein lassen.”

Ringsum lagen sich die Familien, die es über den Zaun geschafft hatten, in den Armen. Einige weinten. Der Rothaarige baute sich jetzt vor Johanna und Grasshoff auf.
„Wo kommt ihr denn her?”

6
Jan
2009

Café

Als Schüler auf der Volksschule schrieb ich gerne sogenannte Phantasie-Aufsätze. Meine Lehrerin förderte dies. Um dabei ungestört zu sein, aber auch um durch meine Schreibwut die anderen nicht zu irritieren, wurde ich bei diesen Gelegenheiten in einen durch eine Glaswand abgetrennten Teil des Klassenraums gesetzt.

Ich erwähne das, weil diese Situation - für andere gut sichtbar meiner Tätigkeit nachzugehen und zugleich beobachten zu können, was die anderen tun - eine spätere Vorliebe vorwegnahm: im Café oder überhaupt in einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit zu schreiben.

Diese Vorliebe ist nicht ungewöhnlich, vielmehr teile ich sie mit vielen Autoren. Gleichwohl hat jedes Schreiben an einem bestimmten Ort ein unverwechselbares Gesicht.

21
Dez
2008

Das Schicksal von Roger Willoughby

Was das Schreiben angeht, so fühle ich mich nicht selten meinen Einfällen (und den Zeiten, in denen sie kommen) ausgeliefert.
Das heißt nicht, dass ich mich nicht gerne ausliefere.
Im Gegenteil: Dieses Ausliefern ist ein wesentlicher Teil der Glückssuche, mit der dieser Beruf natürlich auch zu tun hat.
Ein Hollywood-Streifen von 1964 kann das vielleicht verdeutlichen: Es ist eine Komödie von Howard Hawks und der deutsche Titel lautet: 'Ein Goldfisch an der Leine'.
Jedenfalls gerät am Ende des Films unser Held Roger Willoughby (gespielt von Rock Hudson) in einen anhaltend starken Regen. Eigentlich ist es mehr ein Wolkenbruch, der erst den Boden durchnäßt, dann Rinnsale entstehen läßt, deren Richtung man noch einzeln verfolgen kann, die letztlich aber zu etwas anschwellen, das alles überflutet und mit sich reißt.

So ist das mit dem Schreiben.

Nun behaupte ich nicht (wie ich schon sagte), dass ich mich nicht gerne ausliefere... Doch vielleicht erst noch einmal zu Roger Willoughby: Er treibt nun auf einem extrem wackligen Floß auf einen großen See hinaus. Allerdings liegt nun an seiner Seite Abigail Page, die chaotischste Frau der Welt, die er (wie ihm nicht zu spät bewusst geworden ist) liebt. Außerdem ist es Nacht.
Unter diesen Umständen wird er auf Rettungsversuche ("Roger Willoughby! Wollen Sie, dass wir kommen und Sie retten?") gelassen antworten: "Nein, Mr. Catwolleder (der sein Boss ist) , ich will nicht gerettet werden!"

Wie gesagt: So ist das mit dem Schreiben.

20
Dez
2008

Schreibtisch

Die Arbeit eines Schriftstellers an seinem Schreibtisch ist erschreckend erlebnisarm (nicht unbedingt sein Leben). Ich habe nie Tagebuch geführt und habe das auch nicht vor, wahrscheinlich, weil ich mich zu einem unmittelbaren Schreiben über J.L. angehalten sähe und weiß, dass ich über meine Erfahrungen schon mittelbar in vielen Rollen und Figuren meiner Geschichten schreibe. Dieses romanhafte 'lügnerische' Schreiben hat (im Gegensatz zum Gestus des Tagebuchs) etwas mit Verbergen zu tun - wobei mir selbst undeutlich ist, was genau das zu Verbergende ist. Ich bin vermutlich auch gar nicht scharf darauf, es herauszufinden (bzw. ich bin zu feige, es zu tun), weil dieser Gedanke (nämlich das im Unbewussten 'Verborgene' herauszufinden und zu benennen) als treuen Begleiter stets die begründete Furcht mit sich trägt, dann vielleicht Abschied vom Schreiben nehmen zu müssen - das bekanntlich wesentliche Impulse aus dem Unbewussten erhält.

Schreiben ist in diesem Sinne für mich eine Flucht vor der Selbsterkenntnis - zugleich aber auch in vielfältiger Weise eine ziemlich lange Reise dorthin. Denn wenn über die Jahre relativ kontinuierlich so etwas wie ein 'Werk' entsteht, bilden sich für den aufmerksamen Leser (das muss nicht zuerst der Autor selbst sein) eine Reihe von Konstanten heraus, wie sie in den Beschreibungen, Dialogen, Handlungsverläufen und Örtlichkeiten immer wieder auftauchen.

Was ich sagen will, ist, dass ich mich als Autor vor allem auch angebunden fühle an die Lebensumstände meiner Kindheit und dass die Jahre eines langen Erwachsenen- und Autorenlebens mich immer wieder dazu führen, diese Prägungen und ihre zweifellos schicksalhaften Bedingungen zu 'bearbeiten'.

16
Dez
2008

Recherche

Für den Roman 'Reichstage' waren meine bisher umfangreichsten Recherchen notwendig. Der Roman spielt in der Wendezeit von 1988-90, hat mehrere Handlungsstränge und viele Schauplätze. Ich musste vor allem etwas über die offiziellen politischen Abläufe in der DDR und über den Alltag ihrer Bewohner erfahren, wobei geografisch Leipzig und thematisch das Ministerium für Staatssicherheit eine wesentliche Rolle spielten. Aber ich musste auch dem Weg meiner Helden nach Ungarn (Sopron und Budapest), nach Prag und Berlin (Prenzlauer Berg) folgen.

Eine ganz andere Recherche inhaltlicher Art ergab sich aus dem Umstand, dass meine 'Heldin' Bel Modemacherin ist. Also versuchte ich, mir alles mögliche zum Gebiet der Haute Couture anzueignen. Das ging von Hochglanzzeitschriften wie Vogue bis zu historischen Aspekten, was die Entwicklung von Modeklassikern anging, schloss aber auch ein, wie der Alltag von Modells aussieht oder wie sich eine Modemacherin jenseits der Pariser Schauen mit dem Markt herumschlägt.

Für den Roman 'Lucky in Kessel', in dem mein Held als Tankstellenpächter in die Geschichte eintritt und sich dann zu einem achtenswerten Hersteller von Vibratoren mausert, musste ich einiges über die Herstellung von handgefertigten Vibratoren in Erfahrung bringen (bestes additionsvernetzendes Silikon, sehr schwere Schwungmasse, Steuerung der Vibration durch eine intelligente Schaltung mit Mikroprozessor), ferner über Webcamgirls, Enduros und wie die politische Abteilung der Kriminalpolizei mit Hakenkreuzschmierereien umgeht.

Freilich habe ich das meiste erst recherchiert, nachdem ich die entsprechenden Kapitel schon geschrieben hatte. Das heißt: meine Arbeitsweise ist so, dass ich mir durch die Vorstrukturierung eines Themas bei Recherchen (gleich ob Stasi oder Vibrator betreffend) nicht die freie Entwicklung meiner Figuren streitig machen lassen will.

Zwar gibt es immer und auch durchaus frühzeitig wechselseitige Beziehungen durch das innere Netzwerk, das wir mit durchs Leben schleppen und das durch früher erworbenen Kenntnisse, Erfahrungen und gewiss auch durch die genetische Anlage geknüpft wird. Aber meine 'Technik' des Erzählens einer Geschichte ist eindeutig: zuerst muss sich die Geschichte aus ihren Figuren heraus entwickeln, danach überprüfe ich anhand der mir zugänglichen Fakten, wie glaubhaft ist, was ich geschrieben habe.

13
Dez
2008

Keller

'Reichstage' hat etwa 650 Seiten, ist also ziemlich umfangreich. Wenn ich eine bestimmte Stelle finden will, nutze ich die Suchfunktion die Word bietet. Ich versuche mich an einzelne prägnante Worte oder Satzteile aus dem Umfeld der Stelle zu erinnern und gebe sie ein. Für mich ist es dann manchmal sehr interessant, welche alternativen Stellen die Suchmaschine anbietet, bis sie vielleicht an der 'richtigen' angekommen ist.
Ein Beispiel: Eine Kellerszene. Bel, eine meine Hauptfiguren, präsentiert ihrem Freund und ehemaligen Liebhaber Tom den Lagerraum ihres Modeladens. Dort ist eine Wand feucht geworden. Nun will sie von Tom erfahren, wie nun am Besten zu verfahren ist. Ich wollte diese Szene dazu nutzen, eine prägende Jugenderinnerung Toms einzufügen, in der er sich an seinen ersten Kuss erinnert (der ebenfalls in einem Keller statt fand - ein Erlebnis übrigens, das schlimm ausging).

Auf dem Weg zu dieser Kellerszene kam ich an folgenden Keller-Ergebnissen vorbei, die mir die Suchfunktion anbot:

1) Frederik, ein Offizier der Staatssicherheit der DDR, erinnert sich an seine Ausbildung an der Stasi-Hochschule in Potsdam, als er die Situation Jugendlicher im Keller eines abbruchreifen Prenzlauer Berg-Hauses beschreiben muss - und für seine mitfühlende Anschaulichkeit gemaßregelt wird.
2) Bettina, eine junge Frau im Umfeld der Leipziger Basisgruppen, verguckt sich bei einem Kellerkonzert in den Saxophonisten einer Band und verbringt mit ihm am Vorabend des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Nacht – mit dem Willen, sich auch einmal so etwas wie privates Glück zu gönnen.
3) In den Kellerraum der 'Kurcoelnischen Bank', wo auch Bel ein Schließfach hat, wird eingebrochen. Auch Bels Schließfach, wo sie das Päckchen bewahrt, ist unter denen, die aufgebrochen werden
.
Soweit die wichtigsten Belegstellen für 'Keller' im Roman 'Reichstage'. Jedenfalls war ich selbst erstaunt. Man könnte die bekannte Sentenz, dass nicht der Autor selbst der beste Interpret seiner Werke ist (sondern der Leser), ergänzen durch: und die Suchmaschine.

12
Dez
2008

Die schöne Jüdin

Ich sah mich vor der Aufgabe, die Neigung meiner Hauptfigur Bel zu allem, was mit Juden zu tun hat, etwas mehr und glaubhafter auszustaffieren. Ich erinnerte mich einer Begegnung in Amsterdam und versuchte sie - vergeblich - für den Roman nutzbar zu machen. Aber auch wenn das nicht klappt, so ist es doch, wie ich finde, eine hübsche Geschichte:


Amster5 Von Dezember 2000 bis Januar 2001 war ich auf Einladung des niederländisch-deutschen Kulturaustauschs in Amsterdam. Ich wohnte in einem kleinen Apartment unter dem Dach eines alten Patrizierhauses direkt am Vondelpark, im Südwesten der Stadt. In den vier Wochen meines Aufenthalts streifte ich jeden Tag durch die Straßen und an den Grachten entlang, um zu einzelnen Orten zu kommen, die mir lieb geworden waren - oder um neue zu entdecken. So war ich häufig im Grand Café De Jaren, um dort an den Zeitungstischen bei einer Tasse Kaffee ein wenig zu lesen, das bunte Gemisch von Touristen, Studenten (der nahen Hochschule) und 'normalen' Bürgern der Stadt zu beobachten und dann mein Tagespensum von zwei, drei Seiten zu schreiben. Durch die riesige Fensterfront hatte man einen ungehinderten Blick auf die Amstel, wichtiger für mich waren jedoch Ausblicke auf die großen und kleinen Inszenierungen von Individualität im Inneren des theatergroßen Raumes.
Abends war ich manchmal im Café Americain, einem aufwändig restaurierten Art Deco-Tempel, in dem man am üppig bestückten Zeitungsdesk bei einem Glas Sauvignon Blanc Scharen von amerikanischen Sightseeing-Touristen beobachten konnte. Aber auch Banker, die sich bei Cognac und Havanna entspannt über internationale Wirtschaftsblätter beugten. Oder gut situierte Amsterdamer Familien, tief gestaffelt in mehreren Generationen und allesamt in Sonntagskleidern, die irgendeine Familienfeier begingen.
Hin und wieder zog mich auch das Kulturzentrum De Balie an. Dort war, vornehmlich bei Film- und Diskussionsveranstaltungen, ein eher intellektuelles, linksliberales Publikum anzutreffen, studentisch, alternativ, kritisch. An einem Abend war gerade eine Veranstaltung zu Palästina beendet, als ich auf dem Heimweg Richtung Vondelpark noch auf ein Glas Wein vorbeischaute.
Ich setzte mich an einen freien Tisch, holte an der Bar meinen Wein und begann zu schreiben. Immer mehr Leute strömten aus dem Veranstaltungsraum und verteilten sich im Bistrobereich. An meinen Tisch kam auf diese Weise eine etwa 40jährige Frau. Sie fragte, ob noch Platz sei, was ich bejahte. Eine ältere Frau gesellte sich zu ihr. Die beiden unterhielten sich in Englisch. Es ging um den Vortrag. Dem Gespräch war zu entnehmen, dass die Jüngere Mitglied der jüdischen Gemeinde war.
Dieser Umstand erweckte zusätzlich mein Interesse - obwohl es des Hinweises kaum bedurft hätte, denn die Frau war sehr schön, wirkte überdies sehr lebendig in ihren Gesten und hatte sichere, anmutige Bewegungen (einmal stand sie auf, um an der Bar Wein für sich und die Ältere zu holen). Sie hatte ein weites lodengrünes Cape abgelegt, als sie sich an den Tisch setzte. Darunter trug sie ein rotes Samtkostüm, das erkennbar von sehr guter Qualität war. Ihr Haar war rabenschwarz, ihre Augenbrauen ebenso betont, ihr Mund war rot geschminkt und sie hatte weiße, blendend weiße Zähne.
Irgendwann wurde die Ältere von einem bärtigen Mann weggeholt. Nach einigen stillen Augenblicken schauten wir zur gleichen Zeit auf, unsere Blicke kreuzten sich, und wir kamen mit einem Lächeln ins Gespräch. Ich sagte, dass ich Autor sei und zurzeit in Amsterdam wohnte. Sie fragte nach meinem Namen, und aus einer Laune heraus nannte ich ihr den ersten jüdisch klingenden Namen, der mir einfiel.
Sie schien einen Moment lang irritiert, dann sagte sie: "Das glaube ich nicht."
Ich fragte warum. Sie sagte: "Dann wären Sie anders. Ganz anders!"
Ich sagte: "Gut, ich weiß nicht, wer und was mein Vater war. Vielleicht war er ja ein Nazi?"
Wieder sagte sie: "Das glaube ich nicht."
Wieder fragte ich warum. Und wieder sagte sie: "Dann wären Sie anders. Ganz anders!"
Wir lachten beide. Danach unterhielten wir uns lange über Identität.
Ich sagte, dass ich zwischen bürgerlichen Werten und Ansprüchen und dem unerklärlichen Drang zu schreiben hin und her gerissen sei. Ich hätte das Gefühl, keine eindeutig lebbare Identität zu besitzen.
"Das kenne ich", sagte sie. "Das kenne ich gut. Aber anders: Ich habe immer das Gefühl gehabt, ich müsste aus meiner Identität ausbrechen, weil sie mir gegenüber so unnachsichtig war, so ausweglos. Gerade deshalb wollte ich davon weg. Allerdings wusste ich nicht wohin."
Seit einigen Jahren engagierte sie sich für die Palästinenser in den besetzten Gebieten. Esther war Juristin und mit einem Rechtsanwalt verheiratet, der eine angesehene Kanzlei in Den Haag hatte. Dort wohnte die Familie mit zwei halbwüchsigen Kindern. Wenn Esther in Amsterdam war, nutzte sie die Freiheit eines Apartments im ehemaligen jüdischen Viertel, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte.
Esther fragte mich dann nach meiner Arbeit. Ich erzählte von den 'Reichstagen', dem Roman, den ich gerade nach langen, wirren Jahren abgeschlossen hatte (in einer ersten Fassung, wie ich später feststellen musste): ein Roman, der nicht zuletzt auch von den Schwierigkeiten nationaler wie individueller Identitätsfindung handelte. Ich erzählte Esther auch, dass ich über Jahre hin die Vorstellung hatte, dass der Roman mit einem bestimmten Satz beginnen sollte:
Tom hatte eine Frau kennen gelernt, die manchmal Ladendiebstähle beging und, wenn sie erwischt wurde, behauptete, Jüdin zu sein.
Ich musste Esther den Satz und wie es dazu gekommen war, erklären. So wurde es eine lange Nacht im De Balie. Später trafen wir uns noch einige Male, wenn Esther allein in Amsterdam sein konnte. Aber das ist eine andere Geschichte.

11
Dez
2008

Schlitz ins Kleid

Ich fand für Bel, eine meiner Hauptfiguren in Reichstage, heute eine Verbindung, die von ihrer besonderen Art, Mode zu machen, zurück reicht in eine traumatische Erfahrung in ihrer Kindheit. Nebenbei ergab sich ein Verweis zu Lucio Fontana, den ich - wenn ich mich recht erinnere - zuerst im Museum Ludwig oder im Abteibergmuseum in Mönchengladbach wahr nahm. Und dann merkte ich, dass Bels Tod (dessen Imagination und Beschreibung zuerst da waren) genau in diese Motivreihung passt: Kindheitserfahrung - Fontanas Werk - Bels Modedesign - ihre Art des Todes (auch wenn das jetzt etwas mechanisch klingt).

Gearbeitet habe ich im Café. Am Ende erzähle ich der Bedienung, dass es ein guter Tag war und warum. Die junge Frau will Schauspielerin werden. Allerdings neigt sie zur Melancholie. Demnächst hat sie Prüfungen in 8 Fächern. Ich kann ihr immerhin sagen, dass sie durch den Schauspielunterricht an Form gewonnen hat (in jeder Hinsicht). Sie sagt, das hat ihr noch keiner gesagt. Sie freut sich. Irgendwann werden wir vielleicht über Literatur und Theater und das Leben reden (länger als die Halbsätze im Café, wenn schon wieder die Glocke schrillt: Der Grünkohl mit untergemengten Kartoffeln und Mettwürstchen für den älteren Professor mit seiner jungen Doktorantin). Die Schauspielschülerin sagt, dann müsse sie sich erst mal vorbereiten (was etwas bedrohlich klingt).
Am Abend auf Arte 'Lost in Translation' mit Bill Murray (als desillusionierter älterer Schauspieler) und der großartigen Scarlett Johansson (als gerade erst verheiratete junge Frau), die sich für eine Weile gemeinsam in Tokio durchschlagen. Das war ein guter Tag.
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Erzählen

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:::::::::::::::::::::::::::::::: Jochen Langer lebt und arbeitet als Autor in Köln. Er war als Dozent für die 'Grundlagen des Erzählens' zuständig und hat eine Vorliebe für Literaturaktionen. Zahlreiche Förderpreise und Auszeichnungen. www.jochenlanger.de ----- Seit 2009 Alltagsbetreuer für demenziell Erkrankte, Dozent an Fachseminaren der Altenpflege und Museumsführer für Demenzkranke. Gründung von dementia+art - ein Dienstleistungs-Unternehmen für 'Kulturelle Teilhabe bei demenziellen Erkrankungen und altersspezifischen Einschränkungen'. www.dementia-und-art.de

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_____________________ Meine Kommentare

Danke für deine Antwort,...
Danke für deine Antwort, Lady! Dass sie nie zusammen...
JochenLanger1 - 2. Apr, 23:14
Ich hätte ja gern gewusst,...
Ich hätte ja gern gewusst, wie du (und andere) das...
JochenLanger1 - 2. Apr, 17:00
Kaffeehaus-Essenz.
Auch ich habe Ihren Kommentar gerne gelesen, weil er...
JochenLanger1 - 31. Mär, 09:04
Die Reise des Helden
Nein, das ist nicht begriffsstutzig, sondern auch mein...
JochenLanger1 - 30. Mär, 21:29
Nicht für das oben beschriebene...
Nicht für das oben beschriebene Vorhaben. Ansonsten...
lamamma - 29. Mär, 23:12

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Leonard Bernstein, Nypo, Andre Previn
Gershwin: Rhapsody in Blue-An American in Paris


Dave (Composer) Ost/Grusin, Fabulous Baker B
Fabulous Baker Boys

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