Reichstage

22
Jan
2009

Einbruch

Im Wohnraum konnte sie zudem alles besser überblicken. Das war wichtig. Vor zwei Monaten hatten sie einen Einbruch gehabt, während sie mit Sabinchen in der Spielgruppe der Caritas gewesen war. Der oder die Diebe hatten die Tür zur Terrasse aufgehebelt. Danach mussten sie blitzschnell durchs Haus geeilt sein auf der Suche nach Bargeld. Die alten Bernsteinohrringe, die Scheckvordrucke, alles offen und gut sichtbar, blieben liegen. Doch aus einer Vorratsdose stahlen sie die Bargeldreserve, zweihundert Mark. Sonst nichts. Kein Vandalismus. Es waren Profis, Gott sei Dank!

An jenem Vormittag wurden noch drei weitere Häuser in der Nachbarschaft heimgesucht. Die Polizei erschien irgendwann im Lauf des Tages, verteilte Formulare und dämpfte jede Hoffnung auf einen raschen Fahndungserfolg. Vielmehr sollte das Prinzip Hoffnung gelten: irgendwann machte jeder Dieb einen Fehler... Danach versuchten sie, das Haus zu sichern und ließen Fenster, Türen und sonstige Öffnungen mit einem Alarmsystem versehen. Zumindest die Fehlalarme funktionierten prächtig. Der Polizeibeamte, der sie geduldig beraten hatte, schlug vor, einen Hund ins Haus zu nehmen. Aber Sabinchen war gegen Tierhaare allergisch. Keine Chance.

In der Zeit nach dem Einbruch hatte Keto ein Gefühl körperlichen Unbehagens, dass ohne ihr Wissen Fremde im Haus gewesen waren. In den ersten Tagen wischte sie alle Dinge, womit die Familie in Berührung kam, mehrfach mit einem Desinfektionsmittel ab. Mehr als einmal malte sie sich aus, wie es gewesen wäre, wenn die Einbrecher sie allein mit Sabinchen überrascht hätten… Wenn das Kind dabei war, vermieden Carl und sie das Thema, Sabinchen sollte keine unnötige Angst bekommen.
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17
Jan
2009

Was riecht so?

(Leipzig, Nov. 87)
Eine ihrer Gelegenheitsarbeiten in dieser Zeit ist, dass sie hilft, die 'Leipziger Volkszeitung' auszuliefern. So wird ihre erste gemeinsame Nacht ein früher Morgen. Als sie aus dem Gebäude kommt, sitzt Frederik auf dem Treppenabsatz. Er wartet, bis sie ihn erkennt. Dann steht er auf, und sie drängt sich wortlos an ihn.

"Was riecht so?" will er wissen.
"Lauter Lügen", sagt sie. "Druckerschwärze, Zeitungspapier."

16
Jan
2009

Eine junge Frau

Eine Lampenfassung, dann, nach ein paar Tagen, eine Glühbirne zu vierzig Watt (zwei zur Reserve). Eine Decke aus Kunstfaser für Nächte, in denen die Stromversorgung zusammenklappt. Ein Zeltplatz in Polen, mit Freunden, die ein Faltboot haben. Gute Bücher. Sie hat eine Frau an der Hand, die über ihre Freundin Bücher ausleiht, vorweg.

Ein knappes halbes Jahr kennt er sie nun. Sie redet von Gerechtigkeit, naiv, ohne zu wissen, was das sein soll. Von der Einheit mit der Natur. Geplappert mit dem Bewusstsein, dass es damit in der Republik nicht weit her sein kann. Von 'Frieden schaffen ohne Waffen', im eigenen Land. Drauflos geredet, vielleicht nur weil ihr ein hübscher Bursche gefällt, mit langen Haaren und ausgeflippten Klamotten, dem sie imponieren will. Der freche Sprüche drauf hat, bis er mit seinen Freunden von der Volkspolizei aufgemischt wird.

Meist gibt es einen ablesbaren Weg, denkt Frederik. Vor ein oder zwei Jahren noch ein Mädchen wie tausend andere. Das westliche Rockmusik und Filmstars mag und hier und da junge Burschen an der Leine hat, zwischen denen sie changiert, im Dauerclinch mit Eltern, Schule und überhaupt mit allen, die ihr reinreden wollen. Und da gibt es genug in der Republik.

Bettina Jaenicke ist zweimal verwarnt worden: wegen ihrer „pazifistischen Äußerungen“ und der frühkirchlichen Ideale, die sie in der FDJ vertreten hat. Sie wird nicht studieren dürfen. Doch für eine junge Frau ihrer Überzeugungen und mit einem Pfarrer als Vater ist das nichts Besonderes. Zurzeit arbeitet sie als Packerin, füllt die leeren Regale auf in einem Konsum-Laden. Frederik hat sich ihr nach Akteneinsicht genähert: die Überwachungsprotokolle, die Observationen, die Materialsammlungen zur Beweissicherung. Eine Einweisung durch Vorgesetzte und Kollegen geht voraus. Sie sind ein Kollektiv. Nicht er, sie soll der Verführer sein.

"Du glaubst, dass das geht?"
Gleich ist Unwillen in ihrem Blick. Die Frage des Vaters ist längst vertraut und weist auf ihren uralten Streit. Und nervt.
"Was soll das? Warum fragst du?"
"Ein demokratischer Sozialismus - ohne Zwangsmaß-nahmen, die den Menschen zu ihrem Glück verhelfen sollen?"
"Ja warum denn nicht?"

Jetzt hat sie ihre eigene kleine Wohnung. Ein Zimmer. Seither kommen sie und ihr Vater besser zurecht. Jeder hat sein eigenes Leben. Und nun zieht es Bettina wieder öfter ins Pfarrhaus, und wenn auch nur, um Wäsche zu waschen oder zu baden. Jaenicke verliert nie ein Wort über Bettinas häufige Badevergnügen, früher sind ihm immer einen Streit wert gewesen. Danach gibt es noch, von Klärchen ermuntert, ein deftiges Abendessen, in der Wohnküche, die einen direkten Zugang zum Innenhof hat. Landbrot mit Gänseschmalz, die der Vater einmal im Monat von einem LPG-Mitglied erhält. Ein ehemaliger Bauer, den er beim Sterben begleitet hat und der sich danach wunderbarerweise erholt hat. Seither Brote und Gänseschmalz.

Ihre Haare sind flachsblond geblieben seit der Kindheit. Evelyn, die Mutter, sagt einmal, dass es Vergleichbares nur auf den Gemälden flämischer Meister gebe. Sie sagt es zu ihrem neuen Mann, als Bettina zu Besuch ist, und Bettina lässt es schon deswegen nicht gelten. Aber die nachgedunkelte Eiche der altmodischen Küche im Pfarrhaus, mit Büfett und Eckbank, wirkt gleich heller und freundlicher, wenn Bettina eintritt. Der Vater bemerkt es und schaut ihr umso freudiger entgegen. Das Kind ist ihm zu mager. Ein flaches Hinterteil, lange Beine, an denen große Füße hängen, wie an einer Marionettenpuppe. Das macht ihren Gang etwas linkisch, doch nicht ohne Reiz.

Das Wort 'Gardemaß' ist ungebräuchlich im Pfarrhaus, das Distanz hält zur sächsischen Militärtradition. Dennoch scheint Bettina schon früh den Vergleich anzustreben, indem sie bis auf eins zweiundachtzig heranwächst. Jaenicke selbst geht ein wenig gebeugt. Vielleicht hat der Gottesdienst das Seinige dazu getan. Die Mutter hingegen hat ihre Statur gehalten, vor allem seit sie der Partei beigetreten ist. Das richtige Bewusstsein hält den Körper aufrecht.
Nach anderen weiblichen Phasen herrscht, da sie gerade achtzehn ist, bei ihr die Phase des Versteckens vor. Weite, ausgebleichte Jeans und zu groß gestrickte Pullover, unter denen sie Unterwäsche aus Westproduktion trägt. Geschenke der Mutter, Ware, die der ‘Herr Kurt‘ organisiert, der als Direktor bei der VEB-Deutrans Zugriff auf grenzüberschreitende Geschäfte hat. Von jungen Männern, die sie darin sehen dürfen, kommen freilich, wenn sie's recht besehen, darüber keine Klagen.

Zumeist erscheint sie in Jeans oder einem Wickelrock, dazu trägt sie ein Hemd oder einen ihrer Pullover, an denen sie ständig strickt. Sie tritt neben den Vater, den sie überragt, legt die große, schmale Hand auf seine Schulter und küsst ihm die zugewandte Wange, was sie gerne tut, das Gesicht gerötet, ein Badevergnügen.

Der Raum liegt halb versteckt unter einem mächtigen Walnussbaum. Im Sommer ist es kühl, in der kalten Jahreszeit dunkel. Der Innenhof hat einen schmalen, an vielen Stellen abbröckelnden Chorgang, der durch ein Backsteinmäuerchen begrenzt ist. Als von der Baubrigade keine Hilfe kommt, hat man die Mauer einfach selbst mit Mörtel zugeschmiert, um den Verfall aufzuhalten.

Jaenicke sieht wehmütig aus dem Fenster. In seiner Erinnerung füllt sich der Hof mit jungen Menschen. "Ich sehe euch immer noch da draußen, wie ihr..."
"Vorbei. Vorbei. Das hat sich verlaufen“, schneidet Bettina ihm das Wort ab. Zuerst will sie so lakonisch bleiben, weil es leicht Streit gibt. Dann, während sie eine Scheibe von dem guten Brot mit dem leckeren Schmalz beschmiert, setzt sie nach: „Das weißt du doch, Vater. Einige sind jetzt drüben. Manche interessiert es nicht mehr. Die haben andere Sorgen. Die meisten, die ich kenne, wollen einfach ihre Ruhe. Ihre Eltern sowieso. Devise ist wie überall: Wenn's sein muss, mitmachen, ansonsten sich aus allem raushalten."

Jaenicke nickt. Das ist auch sein Prinzip. Seit einigen Jahren fällt es ihm immer schwerer zu erkennen, wohin sein Herr ihn führt. Manchmal kommt es ihm so vor, als sei es der Weg, den einige seiner Glaubensbrüder an der Nikolaikirche gehen. Dann wiederum scheint der Herr ihn darin zu bestärken, auch die Folgen zu sehen: das Leid der Männer, Frauen und Kinder.

Die meisten derer, die sich der Nikolaikirche zuwenden, haben mit der Kirche selbst nichts im Sinn, sondern suchen nur ein Schlupfloch vor dem Zugriff der Behörden. Kaum einer von denen würde gegen den staatlich verordneten Atheismus protestieren. Und das ärgert ihn.
Es ist ein Konflikt, den er nicht nur mit seinem Gott austrägt, mit dem er sonst sehr gut auskommt. Es ist ein mäßigender Gott, der auf Ausgleich drängt und zudem ein ähnlich phlegmatisches Naturell besitzt wie er selbst. Er trägt den Konflikt auch mit Bettina aus, seit sie sich der Nikolaikirche zuwendet, wo sie Gleichgesinnte findet, Anlass und Verführung. Jaenicke wehrt sich lange Zeit dagegen, dass es an seiner Kirche ebenso sein soll.

Wer neu einzieht, bekommt vom Hauswart auf dem Weg zu seinem eigenen Kellerverschlag die Geschichte, dass hinter der Mauer noch skelettierte Körper lagern, erstickt gegen Kriegsende an Feuersturm und Druckwelle. Das Zimmer misst drei fünfzig auf vier Meter und ist schlecht isoliert, mit Kohleofen und schrägen Wänden, sodass nie lange hält, was sie anklebt. Über der unansehnlichsten Stelle hat sie 'Schwerter zu Pflugscharen' angebracht. Jetzt ist das Plakat selbst schon stockfleckig. Es gibt nur ein Fensterchen, so hoch gelegen, das allenfalls die Aussicht auf rauchende Kamine erlaubt ist. Ringsum eine zusammengeflickte Dachlandschaft, die unversehens abstürzt in einen Hinterhof, vier Stockwerke tief.

Im Haus und im düsteren Hinterhof ist Kindergeschrei reglementiert: Nicht in der Mittagszeit sowie nach Einbruch der Dunkelheit, wann immer das sein mag. Der Hinterhauskeller ist verschüttet geblieben, zugemauert mit kaiserlichem Backstein. Das Klo, auf halben Weg zur unteren Etage, teilt sich Bettina mit drei Parteien. Toilettenpapier bringt jeder selbst mit. Dass sie empfindlich ist, merkt sie erst jetzt (Klärchen Matussek hat stets auf Sauberkeit gehalten). Wenn sie Freunde erwartet oder den Vater, putzt sie auch außer der Reihe das Klo. Bad gibt es keins. Andere Mieter haben sich selbst eines gebastelt, Nasszellen mit wagemutigen Schlauchkonstruktionen. Doch Bettina nutzt lieber das pfarramtliche Badezimmer. Für das flachsblonde Haar hat sie sich eine Wanne besorgt, Emaile, außen blau und innen weiß, über die sie sich beugt. Ab und zu setzt sie sich auch mit etwas heißem Wasser vom Herd, einem Lieblingsbuch und Schokolade hinein. Lektüre können Reiseerzählungen sein, durch ferne Länder, oder die melancholischen Russen. Diese wunderbaren vergeblichen Liebesgeschichten. Aushilfsweise arbeitet sie an Samstagen in einer Buchhandlung und teilt sich mit den anderen Frauen dort in ein knapp bemessenes Deputat. Sie ist eine emphatische Leserin, gierig, schnell, ohne Rücksicht auf Nahrungs- oder Schlafbedürfnisse, offen für jede Geschichte, die man ihr anbietet. Bereit, wenn nicht alles, so doch vieles zu glauben, überzeugt, nicht mit Unwichtigem, Langweiligem behelligt zu werden.

Die Schokolade schickt ihr die Mutter aus Berlin. Belgische Markenware, Herrenschokolade, wegen des hohen Kakaoanteils. Damit sie was schmeckt. Früher hat sie die Verpackung hinters Bett geheftet und mit dem Glanzpapier gebastelt.

In der Wanne hat sie sich noch von keinem sehen lassen. Da das Ding jedoch kaum zu verbergen ist, kursieren Gerüchte. Wen sie unters Dach einlädt, den bewegt sie beizeiten zum Gehen oder Bleiben. Sie hat hier oben schon Männer empfangen, seitdem sie Frederik kennt ohne Zweifel ihn am häufigsten.

In den Basisgruppen redet sie nun mit, ohne Scheu etwas Dummes zu sagen. Manchmal treffen sie sich hier oben zu Keksen und Hagebuttentee. Den gibt es im Pfarrhaus seit ihrer Kindheit: im Winter dampfend heiß, im Sommer gekühlt. Sie weiß lange Zeit nicht, ob sie ihn hasst oder ob er ihr lieb ist. Jetzt ist er hier oben angekommen.

Franz gießt Slibowitz dazu. Ein stilles, klares Glucksen. Es ist kalt. Draußen quetscht sich Smog zwischen die Straßen und Häuserblocks. Im Zimmer drängen sich Pascal, Erwin, Markus, Nicole, Manuela und Bettina. Frederik führt sich die Namen vor Augen: Was für eine weltoffene Versammlung.

Er hat in ihrem Dossier, wie es in der 'Runden Ecke' geführt wird, eine frühe Aktennotiz über die Eltern gefunden: 'Trennung aus persönlichen und ideologischen Gründen. Lässt für die Zukunft Einwirkungsmöglichkeiten erwarten.'

Wer das Pfarrhaus unter einem gemauerten Portal hindurch betritt, weiß, was er tut, denn es ist von allen Seiten einsehbar. Die Räume rechts im Erdgeschoss sind Wohnung, links finden sich Pfarrbüro und Gemeindezentrum. Da es die Familie so nicht mehr gibt, besteht Bettina nach der Trennung der Eltern darauf, dass an der Klingel nur der Name des Vaters erscheint und ihrer. Damit für jeden erkennbar ist, dass die Mutter hier nicht mehr lebt, sondern in Berlin, näher an der weltberühmten Charité. Acht Jahre ist das her. Der Vater hingegen hat sich an seine Pfarrgemeinde gebunden gefühlt.

Die Mutter hat als Anästhesistin im 'Roten Haus' des Universitätsklinikums gearbeitet. Für die Wünsche des Kindes zumeist unabkömmlich. Der Vater hingegen ist greifbar, sofern Bettina sich an geweihte Erde hält. Und doch ist Bettina nicht selten mit dem Rad quer durch die Stadt unterwegs, erst glücklich, wenn ihr nach langem Warten vor dem roten Backsteinbau die Mutter in die Arme läuft.

Mit Zehn beschließt sie, beim Vater groß zu werden, obwohl sie Zöpfe trägt, beidseitig geflochten, was ihr am Morgen die Mutter tun muss, während Bettina sich ein Marmeladenbrot ums andere in den Mund stopft. Schluckweise Kakao dazu, damit es besser rutscht.
"So halt doch still!" ist ein beliebter Satz. "Ist jeden Morgen dasselbe. Was sagt eigentlich deine Lehrerin, wenn du zu spät kommst?"
"Nichts. Die denkt, ich hab gebetet."
"Hast du etwa?"
"Nö. Aber gesagt hab ich das. Und die Zelicke ist doch selbst... na, jedenfalls guckt die dann immer so komisch, als hätt' ich sie aufm falschen Bein erwischt. Wenn wir beim Gronitz haben, flutscht das natürlich nicht."
"Und was sagst du dem?"
"Musste furchtbar schnell mal für die Pioniere flitzen. Allzeit bereit!"

Die Mutter zweifelt die Entscheidung Bettinas, beim Vater zu bleiben, zu deren großen Kummer nie an. Kläre Matussek, die Haushälterin, geht Jaenicke und Bettina seither allein zur Hand. Eine umsichtige Frau, die sich die Hände an der Schürze abstreift, selbst wenn sie trocken und sauber sind. Die schlesisch kocht, wie sie es gelernt hat, in Mengen, die der Mutter nie sympathisch waren. Die nach einem rotierenden System putzt, in dem die Jahreszeiten eine Rolle spielen ebenso wie die vorherrschende Windrichtung. Der Mutter, keine Hausfrau aus Passion, ist das nie geheuer.

Darüber hinaus, beteuert Klärchen, wie Bettina sie zärtlich nennt, wolle sie sich um nichts kümmern. Tut sie es doch, beginnt es ganz harmlos. "Ach Kindchen!" ruft sie und zieht Bettina neben sich auf die mit dünnen Kissen belegte Bank neben dem Ofen. "Nu sag schon, was ist dir über die Leber gekrochen? Dafür ist dein Klärchen doch da!"

Ein fremder Mann, den Bettina 'Herr Kurt' nennen soll. Er hat der Mutter beim Umzug geholfen. Alle tun, als wäre das selbstverständlich. Und wirklich: er ist groß wie der geborene Möbelpacker. Aber zwei Blicke und ein paar Worte zwischen ihm und der Mutter genügen, damit auch das Kind begreift, dass er der eigentliche Möbelpacker nicht ist.

Einen Tag nach dem Umzug kommt Bettina mit stoppelkurzem Haar nach Hause. Kathi und Hilde haben ihr geholfen. Allzeit bereit. Daran erkennt man die wahren Freundinnen. Jeder kann jetzt sehen, dass sie die Mutter nicht mehr braucht.

Manchmal schickt ihr die Mutter Bücher, auch westliche Titel, da und dort angestrichen und mit dem eiligen Bleistift der nervösen Anästhesistin kommentiert. Auch wenn zweifelhaft scheint, ob diese herausgehobenen Kommentare wirklich Bettina meinen (nicht selten wirken die Romane zerlesen, durch viele Hände gegangen - ähnlich denen einer Leihbücherei, wo Einträge kaum noch auf den Urheber zurückgeführt werden können), so bezieht sie doch wie bei einem allgemein gehaltenen Horoskop unwillkürlich alles auf sich und auf ihr Leben. Es ist die intimste Verbindung, die zwischen ihnen geblieben ist.
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7
Jan
2009

Teenager

Ein Päckchen, das an den falschen Adressaten geliefert wird. Ein Offizier der Staatssicherheit der DDR und eine Modedesignerin, die auf diese Weise aufeinander treffen. Köln, im Sommer des Jahres 1989. Ein Deutschland, das auf die Wiedervereinigung zusteuert, ohne noch davon zu wissen.

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Ein kleines, unaufwändiges Abendessen. Zum in Sahne und Weißwein gedünsteten Lauch gab es gedämpften Reis. Vorweg, auf die Hand, hatte Belle halbe Brotscheiben in Olivenöl gebraten, das mit gehacktem Knoblauch versetzt war. Als Frederik den Wein öffnete, bemerkte er, dass Belle ihm dabei zusah, scheinbar beiläufig - wie er das auch getan hatte, als sie den Knoblauch schälte und in kleine Stücke hackte.

Zum ersten Mal, seit er die Grenze überquert hatte, fühlte er sich im Westen wohl. Er hatte nicht mehr das Gefühl, in jedem Augenblick für das System zu stehen, für Sozialismus, Staatssicherheit, Politbüro, all das. Zum ersten Mal spürte er nicht mehr den übermächtigen Impuls, sich verteidigen zu müssen, selbst wenn er gar nicht angegriffen wurde.
Seit er mit Belle Buchmann zusammen war, machte er eine fortlaufende, ebenso metaphysische wie physikalische Erfahrung: in einer Reihe von lautlosen Explosionen wurde der Leerraum zwischen ihnen in die Luft gejagt. Er wusste nicht, ob er etwas dagegen tun sollte. Eigentlich musste er zurück nach Berlin, um dem General zu erklären, dass er das Päckchen verloren hatte. Dann würde er Ruthenbeck nach dem eigentlichen Adressaten fragen und nach dem Inhalt.

Belle stand schon viel zu lange neben ihm, um seinen leeren Teller fortzunehmen. Ohne weiter nachzudenken, zog er sie, den nachgiebigen Samt unter den Händen, noch näher zu sich heran, bis sich ihre Körper berührten. Für einen kurzen Moment genügte es ihm, mit seiner Stirn dicht unter ihrem Brustbein Halt zu finden, ein Augenblick der Ruhe in der Mitte der Welt. Dann stand er auf, langsam, auch atemlos, bis sich ihre Blicke ein wenig scheu begegneten. Sie küssten sich wie Teenager, vorsichtig, endlos und ungestüm.

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Siehe auch Reichstage

10
Dez
2008

Reichstage (2)

Nach der Fashionschau war sie verschwunden. Drei Tage lang. Dann fand man den zerfetzten Körper. Ein junges Mädchen hatte die Leiche entdeckt, flussabwärts. Der Körper hatte im Wasser gelegen und war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Vom Mund bis zur rechten Braue zog sich eine klaffende, grob perforierte Wunde. Der untere Teil des linken Arms war bis zum Ellbogen abgerissen, die Kleidung zerfetzt. Offenbar war Belle in eine oder mehrere Schiffsschrauben geraten. Am nächsten Tag berichteten die ersten Zeitungen über die Tote aus dem Rhein. Es waren, im Frühsommer des Jahres 1990, noch relativ knappe, zunächst fast gleichlautende Notizen. Es schien unklar, ob es sich um einen Unfall, Selbstmord oder um ein Verbrechen handelte.

Während Rosalind irgendetwas erzählt, folgt Tom mit wachsender Anspannung den Bewegungen in der Hotelauffahrt, als erwarte er bei jedem Wagen, der vorfährt, dass Belle aussteigen und ihm zuwinken würde. Nach dem Essen holt er Rosalinds Vuitton-Gepäck, einen mittelgroßen Koffer und eine Tasche, die sie bei der Rezeption abgestellt hat. Gemeinsam fahren sie nach oben. Er weiß, wie es ist mit dieser Engländerin zu schlafen. Dabei ist sie nicht einmal sein Typ. Sie ist nicht groß und nicht besonders schön. Sie hat ihn nie um Hilfe gebeten. Eher war es umgekehrt. Sie bedeutet ihm nichts, allenfalls diese Nähe, nach der er sich sehnt.

Es war schon nach Geschäftsschluss gewesen, ein angenehmes, warmes Licht beleuchtete die Auslagen. Kleider, Hosen, Röcke, gute Stoffe in Erdtönen, versetzt mit Materialien in Neonfarben, klassische Schnitte, verfremdet durch künstliche Risse, Perforierungen à la Fontana. Ein leichter Nieselregen zog vorbei, in einer jähen Windbö flogen Mantelschöße auf, Einkaufstüten schlugen gegen die Beine, Passanten hasteten schneller in Richtung Rudolfplatz, wo die Busse und Straßenbahnen abfuhren. Als er aufblickte, stand Belle hinter dem Fenster und schaute ihm in die Augen.

An diesem Abend war sie auf die Idee mit den lebensgroßen Zeichnungen gekommen. Sie drückte ihm den Marker in die Hand und stellte sich mit dem Rücken an die cremefarbene Rückwand des Showrooms.
„Einfach von oben nach unten!“
Eine drei Millimeter breite Linie, die der leisen Ironie in Belles Stimme gehorchte. So nah wie möglich am Körper entlang, die Rundung ihrer Achsel, sein Zeigefinger streifte Schweiß ab - war es denn so heiß? Dann, zwischen ihren Fingern, unterbrach ihn ihr Wispern: “Es kitzelt, Tom!”

Danach hielt sie wieder still. Schließlich kniete er vor ihr, den Rücken krumm wie ein chinesischer Reisbauer, den Kopf gegen ihren Schoß gedrückt, als gelte es eine besondere Stelle zu markieren. Belle stöhnte und kicherte zugleich, hielt aber die Augen geschlossen, nur ein, zwei Mal flatterten die Mascara-gefärbten Wimpern. Brave, tapfere Belle.

Danach zog sie weit schneller seine Umrisse. Für sie war es Routine, hingeworfen, die Geste des Entwurfs. Sein Körper erschien nun neben ihrem, sein Arm neben ihrem Arm, seine Hand berührte ihre Hand, auch wenn es nur der kleine Finger war, der an ihren kleinen Finger tippte, behutsam wie man eine Herdplatte prüft.
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9
Dez
2008

Reichstage (1)

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Eine kurze Einführung in den Roman und ein Prolog


ReichstageEin geheimnisvolles Päckchen, das an die falsche Person übergeben wird. Ein Offizier der Staatssicherheit, der eine Amour fou mit einem ehemaligen Model eingeht. Eine junge Frau in Leipzig, die in den inneren Kreis des Widerstands gegen das SED-Regime hinein wächst und dabei überwacht wird. Eine alleinerziehende Bankerin, die in Prag Geschäfte machen soll und nur ihre Affäre mit einem verheirateten Mann im Kopf hat…

Der etwa 700 Seiten starke Roman Reichstage ist weder Kriminal- noch Agentenroman. Er setzt im Vorfeld des Jahres 1989 ein und folgt den Ereignissen in der DDR wie auch ihrem Wiederhall in der BRD mit dem vorläufigen Schlusspunkt der Wiedervereinigungsnacht. Vor dem Hintergrund der Ereignisse, an deren Anfang der ungeklärte Tod einer jungen Frau steht, kreuzen sich – ausgelöst durch die irrtümliche Übergabe eines Päckchens - die Schicksale einer Handvoll Männer und Frauen in Ost und West.

Auch wenn die historischen Ereignisse den Hintergrund für die drei Handlungsstränge (Köln, Leipzig, Narff, eine Kleinstadt) bilden, steht doch das Schicksal der Figuren im Vordergrund: ihr Umgang mit Täuschung und Verrat, ihre Suche nach Liebe und Erfolg, Anerkennung und Glück.

‚Reichstage‘ ist, zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung, der Versuch eines deutsch-deutschen Romans.


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[Berlin, 2. Oktober 1990]
Von all den Leuten, die Javier Escalon an diesem Tag vergeblich nach einem freien Zimmer fragen, wird sich der selbstbewusste Rezeptionist des Hotels Berlin Central noch Jahre danach allein an die Frau in dem eleganten Wildlederkostüm erinnern. Freilich nicht nur, weil sie ihm, auch nach der ersten Absage hartnäckig bleibend, einen Hundert-Mark-Schein über den spiegelnden Mahagonitresen zuschiebt, sodass er entschieden seine Hände in Abwehr heben und die unschuldig-weißen Handflächen vorzeigen muss.

„Bedaure, meine Dame! Wir könnten die Zimmer vier- oder fünfmal vermieten. Da geht leider gar nichts mehr...!"
Damit schiebt er den Schein sorgfältig zurück, auf dass es alle sehen, und wendet sich nun, nach einer angedeuteten Verbeugung, anderen Gästen zu. Darunter ein Mann, der einen breitkrempigen Hut trägt und bei ihm eincheckt.
„Tom Boeder sagen Sie? Ja. Eine Suite für zwei Personen. Hatten Sie eine gute Reise? Was für ein Tag! Sogar das Wetter spielt mit. Ich sehe, Sie sind allein? Oder erwarten Sie noch jemand?“
„Vermutlich erwarte ich niemand mehr.“
„Dann haben sie Ihre Suite ganz für sich allein... Sie ist sehr schön. Ein besonders breites Bett und ein luxuriöses Bad, Sie werden ja sehen… Sie sind also allein?“
Tom Boeder schiebt den Hut mit einer ungeduldigen Geste aus der Stirn und schaut den Rezeptionisten missmutig an. „Ist das verboten?“
„Nein, um Gottes Willen! Nein! Ich bin nur ein wenig erstaunt. Wissen Sie, seit die Wiedervereinigung beschlossene Sache ist, gibt es kein freies Hotelbett mehr in der Stadt. In ganz Berlin nicht...“

Javier Escalon zeigt erneut seine unschuldig-weißen Handflächen, um ein allgemeines Bedauern auszudrücken. Er ist ein gebürtiger Spanier, mit einem scharfkantigen, gutgeschnittenen Gesicht, kurzgehaltenem Spitzbart und merkwürdig kleinen Ohren. Er trägt eine dunkelblaue Hoteluniform, von der jedoch nur die geknöpfte Weste zu sehen ist. Die Frau in dem Wildlederkostüm steht immer noch am Ende der Rezeptionstheke, halb verdeckt durch eine lärmende Gruppe US-amerikanischer Fernsehleute.

„Könnte ich nicht das freie Bett im Zimmer dieses Herrn haben?"

Die Frage ist laut vorgetragen und klingt ganz unerschrocken. Sie bewirkt, dass der Rezeptionist irritiert zu der elegant gekleideten Dame und dann wieder zu Tom Boeder schaut, unsicher, ob das ernst gemeint sein kann. Doch der nimmt seine neue ledergefasste Reisetasche, tippt leicht mit dem Zeigefinger an den Hut und geht hinüber zu dem gläsernen Aufzug, der ihn ins fünfte Stockwerk hebt.

Rosalind van Achten. Tom hat ihre Stimme erkannt. Den kräftigen, selbstbewussten Ton, unterlegt von einem kaum wahrnehmbaren englischen Akzent. Und doch hat er nicht zu ihr hin geschaut. Er weiß, dass sie ihm folgen wird.

Ein Hotel, gelegen im Bezirk Tiergarten, ganz in der Nähe von Reichstag und Brandenburger Tor. 220 Zimmer und Suiten. Und das ist also das letzte Zimmer in Berlin, denkt Tom, nachdem er die Suite betreten hat: zwei große Aussichtsfenster, dämpfende Teppichböden und Vorhänge, ein breites, gut gepolstertes Bett mit einer Ansammlung von weichen Daunenkissen, ein luxuriöses Bad mit Dusche, Wanne und Bidet. Fernseher, Minibar, Föhn. Vierhundertdreißig für eine Nacht, ohne Frühstück.

Tom, der die anstrengende Bahnfahrt von Dresden auf den Gleiskörpern der DDR-Reichsbahn hinter sich hat, lässt sich erschöpft aufs Bett fallen. Am liebsten möchte er sich ein paar Stunden aufs Ohr hauen. Warum habe ich mich darauf eingelassen? fragt er sich. Warum bin ich eigentlich hier?

Wiedervereinigung. Das bedeutet für ihn: Menschenmassen und glückliche Gesichter. Mit beidem kann er nichts anfangen. Jede Ansammlung von Menschen stößt ihn ab, als handle es sich um unbekannte Kraftfelder, von denen er schon weiß, dass sie nachteilige Wirkungen auf ihn haben werden. Ohnehin hat er keine Lust, das Hotel zu verlassen. Zugleich ist er jedoch zu unruhig, um allein zu bleiben, und so verstärkt die eigene Unentschlossenheit noch sein inneres Aufgewühlt sein.

Tom nimmt die Fernbedienung vom Nachttischchen und richtet sie auf den Fernseher, als wollte er seine Vorahnungen bestätigt sehen. Wohin er auch schaltet: auf allen Programmen kündigt sich die Wiedervereinigung an, Menschenmassen, glückliche Gesichter.
Etwas schwerfällig tappt er hinüber zu den beiden Fenstern. Sie sind nicht zu öffnen, weisen aber in Richtung Reichstag, der irgendwo nördlich liegt. Der Tag draußen erscheint noch merkwürdig ruhig, wie unter Watte, obwohl schon jetzt, am späten Vormittag, viele Menschen die Straßen in Richtung Brandenburger Tor passieren. Immer noch unruhig nimmt er wieder die Fernbedienung zur Hand. In einem der Programme sieht man eine große Tribüne, die erst in den letzten Tagen errichtet wurde. Er kann erkennen, wie dort Techniker in roten Overalls arbeiten, die letzten Vorbereitungen.

Nachdem Tom eine Weile hin und her überlegt hat, fährt er wieder hinunter in die hell erleuchtete Eingangshalle, wo ein unablässiges Kommen und Gehen herrscht. Rechts ist die langgestreckte Rezeption, links, hinter einer raumhohen Glasfront, eines der beiden Restaurants. Als ihm Essensgeruch entgegen schlägt, spürt er seinen Hunger. Seit dem Morgen hat er nichts gegessen. Doch als er nach einem Platz fragt, antwortet ihm der Ober entschieden, dass alle Tische belegt seien und zeigt zum Beweis in die weite, belebte Runde. Missbilligend mustert er den Hut, den Tom nicht abgesetzt hat.

„Sind Sie allein?“
Aber Tom ist hungrig genug, das zu verneinen. Für einen Einzelnen würde es zweifellos nichts geben. Also lässt er sich einen Tisch für vier Personen reservieren. Tom soll eine Stunde warten und setzt sich in die Halle, in einen der Lesesessel der Rezeption gegenüber, bestellt einen doppelten Espresso und blättert in den ausliegenden Tageszeitungen, die einmütig die Einheit Deutschlands für die Nacht auf den 3. Oktober ankündigen. Doch nimmt er die Schlagzeilen nur oberflächlich wahr. Sein Blick gleitet immer wieder hinüber zu den Menschen, die kommen und gehen, als wären sie an ein endloses Band gehängt. Auch hier sind zwei große Fernseher aufgebaut, der Wechsel der Bilder erkennbar am Wechsel der Helligkeit, ein Halbrund von Menschen, als suchten sie Licht.

Allmählich wird ihm klar, dass sich viele Journalisten im Hotel aufhalten, erkennbar an ihren Identitätskarten, lauten Stimmen und Taschen voller Ausrüstung. Ihre massenhafte Anwesenheit wirkt seltsam lächerlich auf ihn. Ein oder zwei Journalisten hätten zweifellos genügt für die Balkenüberschriften und die Fotos vom Reichstag, wie sie später durch die Zeitungen gehen werden. Tausend Reporter, die einige Dutzend Politiker, Künstler und Intellektuelle befragen… Bei der Vorstellung schüttelt Tom unwillig den Kopf. Warum fragt dich niemand nach Belle? denkt er. Warum ist in den Nachrichtensendungen so wenig die Rede von dem, was ich empfunden habe? Und warum sprechen die Leitartikel der Zeitungen nicht von meiner Liebe zu ihr?

Er lässt seinen Handrücken achtlos auf das Zeitungspapier fallen, es gibt einen scharfen Knall. Javier Escalon schaut von der Rezeption herüber, für einen Moment strafft sich seine Gestalt, die kleinen Augen kritisch verengt. Aber Tom merkt es nicht einmal. Er stellt sich die Schlagzeilen von Herald Tribune, Time Magazin, Le Monde vor, die von seiner Liebe zu Belle handeln. Und sie machen sich nicht schlecht. Unterhalb, an dritter oder vierter Stelle, bliebe noch Platz genug für die deutsche Einheit. Und dann sieht er sich auch in den Nachrichtensendungen der großen Sender, zur besten Sendezeit, verpackt zwischen feste Werbeblöcke, wie er sich nachlässig in einen breiten Ledersessel kauert, in der Halle eines Berliner Hotels mit mittelbarem Blick auf den Reichstag, den breitkrempigen braunen Hut mit dem umlaufenden silbergrauen Band hat er aus der Stirn geschoben, und einer dieser Reporter mit Westküstenakzent und Kaugummi in der Backentasche befragt ihn zu Belle. Und die Leute in Amerika, die eigentlich gerade zu einem Sender mit mehr Action zappen wollen, bleiben stehen, weil sie bewegt, was dieser Mann da erzählt.

Es hatte ein gewaltiges Medieninteresse gegeben, über mehrere Wochen hinweg. Belles Schönheit spielte dabei eine Rolle und natürlich der Umstand, dass sie ein Model gewesen war, mit einem gewissen Vorleben. Auch der alte Buchmann war noch eine politische Größe, an die man sich erinnerte. Die Polizei hatte sämtliche Personen in Belle Buchmanns Umfeld verhört. Man hatte die Ermittlungen bis Mailand und Paris ausgedehnt und selbst die ungarischen Behörden um Amtshilfe gebeten. Auch war es einer der ersten Fälle, bei dem die westdeutsche Justiz – gleichsam im Vorgriff auf die kommenden Verhältnisse – die Behörden in Ostberlin und Leipzig um Mitarbeit ersuchte. Doch bei den Vernehmungen und Nachforschungen kam nichts heraus, außer vielleicht Belles Vorliebe für Wagemut und ihre Probleme mit dem Gleichgewicht. Das Päckchen, von dem noch einmal die Rede war, blieb ebenso verschwunden wie das silberne Kettchen mit dem Davidstern, das sie zuletzt getragen hatte. Später sollten sich Zeugen melden, die Skinheads gesehen hatten, in der Nähe der Eisenbahnbrücke.

Als Tom nach einer Stunde das Restaurant erneut betritt, hält er den Hut in der Hand. Der Ober, dessen Gesicht südländische Züge hat und von Stress gezeichnet ist, zeigt auf einen Tisch, der gerade neu eingedeckt wird.
„Darf ich Ihnen den Hut abnehmen?“ fragt er und lässt ihn sich geben. „Vier Personen?"
Die Skepsis, ob es hier mit rechten Dingen zugeht, steht noch in seinem Gesicht, als sein ausgestreckter Arm schon den Weg zum Tisch weist.
„Vier… Ja sicher! Also, ich erwarte noch drei Damen…“, behauptet Tom. „Aber ich bestelle schon mal, wenn’s recht ist… Ich habe einfach Hunger. Was können Sie denn empfehlen? Diese verdammte Reichsbahn… Na ja, Sie wissen schon…“
Doch den Ober interessiert nicht, warum Tom hungrig ist. Unentwegt lässt er seine Blicke über die anderen Tische schweifen. Endlich verzieht er den Mund zu einem kühlen Lächeln, winkelt den linken Arm im Rücken an und leiert das Tagesmenü herunter. Drei Gänge, mit Suppe.

Tom schaut ebenfalls zu den anderen Tischen, die zumeist vollständig besetzt sind, bemerkt aber nichts Auffälliges, das ihn vom Menü abhalten könnte, und stimmt allem zu. Ohne die Suppe. Ihm steht jetzt der Sinn nach anderer Flüssigkeit. Kurz darauf wird schon das Amuse-gueule serviert, eine halbe Brotscheibe mit einem Stück gebratener Entenstopfleber. Er steckt den Happen ganz in den Mund, als könnte er damit seinen Hunger beweisen, und nippt dazu an seinem Aperitif, einem Glas Chablis, das für die Amerikaner an den umliegenden Tischen mit einem Eiswürfel serviert wird.

Als er gerade einen weiteren großen Schluck Chablis nimmt, um die Krümel wegzuspülen, geleitet der Ober Rosalind an seinen Tisch und schiebt ihr den Stuhl ihm gegenüber zu Recht.

„Nummer eins!“ sagt der Ober halblaut wie zu sich selbst und es klingt nicht unzufrieden.
Nach ihren Wünschen gefragt, antwortet Rosalind van Achten in einem Ton, der nach jahrelanger Vertrautheit klingt: "Ich nehme, was der Herr bestellt hat…!"

Zu dem auffälligen Wildlederkostüm trägt sie eine weiße Trachtenbluse mit malvenfarbener Stickerei, die sie konservativer aussehen lässt, als es zu der Situation passte. Dass sie hier ist, kann kein Zufall sein, denkt Tom. Was will sie also von ihm? Er ist kein wohlhabender Geschäftsmann. Kein Gigolo. Er hat nach wie vor ein paar Kilo zu viel. Die knochige Nase, die hohe Stirn und der mönchische Hinterkopf. Das ungesellige Wesen. Kein Journalist, die besseren Manieren, die ihm die Mutter eingetrichtert hat. Rätselhaft allein die Fingerkuppen, deren Linien grün eingefärbt sind.

Rosalind ordnet das vor ihr liegende Besteck neu, für eine Linkshänderin. Vor einem Jahr haben sie zusammen gegessen, einige Male. Er hat mit ihr geschlafen. Warum ist ihm das nie aufgefallen? Rosalind van Achten, mindestens vierzig Jahre alt, eher klein und nicht ganz schlank, mit rotblonden Haaren und grünen Augen, die Frau eines wohlhabenden Kölner Schmuckhändlers, in keiner Weise mit Belle vergleichbar, aber von englischem Geblüt.

„Warum bist du hier? Ich dachte, alles ist abgewickelt und geklärt. Ich habe das Päckchen nicht.“
„Nichts ist geklärt! Außerdem hast du das letzte freie Zimmer in der Nähe des Reichstags."
Dass es ihr nur um das Zimmer gehen könnte, ist so unwahrscheinlich, dass es ihn amüsiert.
„Warum grinst du?“
„Ich musste an einen französischen Film denken…“
„Isch liebe französische Filme!“ flötet sie. „Seit mehr als zwanzig Jahren. Aber was hast du damit zu tun?“
Tom erzählt ihr, dass in dem Film ein Berufskiller den Auftrag hat, General de Gaulle zu liquidieren, bei einer Militärparade in Paris, von einem Hotelzimmer aus.
„Willst du damit sagen, dass ich wie ein Berufskiller vorgehe?“
„Warum nicht?“
„Und wenn schon! Es gibt einen Film, da spielt Kathleen Turner einen Berufskiller in Diensten der amerikanischen Mafia. Also spricht nichts gegen diese Art von Gleichberechtigung.“

Sie lacht und ist dabei so laut, dass ihre kräftige Stimme im halben Restaurant zu hören ist. Obwohl sie nahezu akzentfrei deutsch spricht, klingt das Lachen angelsächsisch. Als ihr Amuse-gueule serviert wird, will sie es abweisen, bemerkt aber Toms gierigen Blick und lässt es ihm servieren. Wieder verspeist er es in einem Happen.

„Warum bist du in Berlin?" fragt er mit vollem Mund, als er ihren belustigten Blick bemerkt.
„Soll ich dir wirklich mein ganzes Leben erzählen?"
„Ich dachte, seit Budapest weiß ich alles über dich?“
Sie winkt ab, wieder mit einem Lachen. „Alles Lüge. Du kennst mich doch.“

Bald darauf wird mit der theatralisch-schwungvollen Geste, die auch an anderen Tischen zu beobachten war, der Hauptgang serviert. Dreierlei Pasta: Penne Rigate, Girandole, Fusilli, in den Nationalfarben eingefärbt mit Tintenfisch, Tomate, Safran, angerichtet wie eine vom Wind bewegte Fahne, deren krummen Mast gegrillte Scampi bilden. Der Ober empfiehlt dazu einen Weißwein aus der Toscana, aber die Engländerin ordert einen halbtrockenen Riesling aus dem Rheingau. Ein Glas? Nein, eine Flasche.

Rosalind schaut amüsiert auf ihren Teller. „Was machen wir mit so vielen Nationalfarben?“
„Essen!“ sagt Tom und mengt die Pasta einfach durcheinander.

Später wird als Nachspeise noch ein weiterer ‚nationaler Dialog’ gereicht: pürierte Früchte - Brombeere, Erdbeere, Birne - auf ausladenden Desserttellern malerisch ausgebreitet. Doch Tom verrührt auch seinen Fruchtbrei stoisch wie ein Kind die Farben einer Palette, während Rosalind ihm noch einmal erzählt, was er seit Budapest weiß: dass sie vor mehr als zwanzig Jahren in Berlin war, zum Höhepunkt der Studentenrevolte.

„Das wird heute eine Art Abschlussfeier für diese Jahre.“
Sie lächelt verhalten, um zu zeigen, dass sie sich zumindest selbst versteht.
„Aber du bist Engländerin! Das sind deutsche Farben. Das ist eine deutsche Abschlussfeier!“
„Wir Engländer hatten schon immer eine Schwäche für die Rheinromantik!“
„Wir sind in Berlin.“
„In Köln hat es angefangen, am Rhein.“
„Das war nicht romantisch.“
„Ich finde schon, dass es romantisch war!“ sagt sie mit einfühlsam gewordener Stimme. "Du trauerst noch um Belle, das verstehe ich. Weißt du, manchmal denke ich, sie war das perfekte Produkt ihrer selbst.“
Tom ahnt zwar, dass die Engländerin Recht hat. Dennoch sucht er entschieden nach einem Widerspruch. „Du kennst sie nicht wie ich“, sagt er schließlich. „Belle wollte immer auch etwas darüber hinaus sein."
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:::::::::::::::::::::::::::::::: Jochen Langer lebt und arbeitet als Autor in Köln. Er war als Dozent für die 'Grundlagen des Erzählens' zuständig und hat eine Vorliebe für Literaturaktionen. Zahlreiche Förderpreise und Auszeichnungen. www.jochenlanger.de ----- Seit 2009 Alltagsbetreuer für demenziell Erkrankte, Dozent an Fachseminaren der Altenpflege und Museumsführer für Demenzkranke. Gründung von dementia+art - ein Dienstleistungs-Unternehmen für 'Kulturelle Teilhabe bei demenziellen Erkrankungen und altersspezifischen Einschränkungen'. www.dementia-und-art.de

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Danke für deine Antwort,...
Danke für deine Antwort, Lady! Dass sie nie zusammen...
JochenLanger1 - 2. Apr, 23:14
Ich hätte ja gern gewusst,...
Ich hätte ja gern gewusst, wie du (und andere) das...
JochenLanger1 - 2. Apr, 17:00
Kaffeehaus-Essenz.
Auch ich habe Ihren Kommentar gerne gelesen, weil er...
JochenLanger1 - 31. Mär, 09:04
Die Reise des Helden
Nein, das ist nicht begriffsstutzig, sondern auch mein...
JochenLanger1 - 30. Mär, 21:29
Nicht für das oben beschriebene...
Nicht für das oben beschriebene Vorhaben. Ansonsten...
lamamma - 29. Mär, 23:12

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