11
Feb
2009

Eine Liebesszene

Budapest im Sommer 1989. Rosalind van Achten und Tom Boeder sind nach Ungarn gekommen, um Belle und Frederik zu suchen. Rosalind in der Hoffnung, Auskunft über den Verbleib eines Päckchens zu erhalten. Tom um Belle wieder zu sehen, die mit dem Ostdeutschen mitgegangen ist.
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Zurück im Hotel telefonierte Rosalind trotz der späten Stunde mit ihrem Mann, erzählte von den Ausstellungen, die sie gesehen hatte, und sagte ihm, dass sie noch ein paar Tage bleiben wolle. Tom hätte längst seine Mutter anrufen sollen, wagte es aber nicht, aus Angst vor schlechten Nachrichten.
Sie hatten sich zwei nebeneinander liegende Zimmer geben lassen, die durch eine Tür miteinander verbunden waren. Eine Familiensuite. Tom war frustriert und abgekämpft auf sein Bett gesunken und bald eingeschlafen.

War es denn sein Bett? Einmal glaubte er nicht allzu weit entfernt eine leise, nicht besonders wehmütige Liedstimme zu hören. Nur einen Vers. Einen kaum wahrnehmbaren englischen Akzent. Einmal stand eine Frau mit dem Rücken zu ihm, in ruhiger Sachlichkeit glitt ihr Rock zu Boden. Ein andermal glaubte er neben sich einen Körper, der unendlich viel Wärme und Anteilnahme versprach. Dann sank er wieder zurück in den unruhigen Schlaf, in dem ihn der Traum verfolgte, der seit seiner Kindheit wiederkehrte und der stets damit endete, dass er durch einen weitläufigen Ostgarten weglief, vor etwas, dass ihn einholen wollte. Da waren Mirabellen. Er hatte ihr aufgeplatztes Fruchtfleisch unmittelbar vor sich. Als er erneut wach wurde, beugte sich eine Frauengestalt über ihn.

„Du hast im Schlaf gesprochen.“
„Wovon?“
„Mirabellen, glaube ich. Das sind diese kleinen gelben oder grünen Früchte, nicht wahr? Kann das sein?“
„Ja.“
„Es war kein schöner Traum, so viel war zu hören. Warum träumst du ausgerechnet von Mirabellen, Tom?“

Er erzählte es ihr. Rosalind umarmte ihn und er versuchte, irgendetwas von dieser Geste festzuhalten. An den sicheren Bewegungen, mit denen sie ihm begegnete, merkte er, dass sie viele Liebhaber gehabt hatte. Und wieder kämpfte er mit dem Gefühl, keinen Halt zu finden. Eine Zeitlang befand er sich erneut inmitten eines dunklen Traums.
Irgendwann im Verlauf dieser Nacht entfernte sich Rosalind, um zu telefonieren - jedenfalls erwachte er von dem Geräusch, als ein Hörer aufgelegt wurde. Erst nach einer Weile wurde ihm klar, dass er davor Stimmen gehört hatte, nein, eine Stimme, die mit einer anderen sprach. Als Rosalind zurückkehrte, zündete sie sich eine Zigarette an und legte sich wieder zu ihm.
„Was ist los mit dir, Tom?“

Sie wartete eine Antwort nicht ab, sondern küsste ihn - zunächst erschien es wie eine kindliche Geste - auf den Mund. Tom schmeckte den warmen, schläfrigen Rauch. Mit der freien Hand griff sie nach seinem Glied wie nach einem neu entdeckten Spielzeug, das man ausprobieren will. Tom strich über die dünn und gläsern wirkende Haut ihrer Beckenknochen, die ihm sehr schön vorkamen. Dann beugte er sich schon über ihren leicht gerundeten Bauch und faltete, seiner eigenen wachsenden Erregung zum Trotz, die äußeren Hautfalten ihres Geschlechts auseinander. Als er den kleinen, glänzenden Knoten mit seinen Lippen bedeckte, den er dort gefunden hatte, sog Rosalind hörbar den Rauch der Zigarette ein. Er fühlte ihre Reaktion bis in die Spitze seines Glieds. Wie sicher ihre Gesten und Bewegungen waren, ohne Hast und ohne Zweifel. Er war jetzt voller Dankbarkeit und nahm dennoch, nachdem er merkte, dass sie ihm schon zuvorgekommen war, wenig Rücksicht: ganz so, als wäre Rosalind die unglückliche Botin einer schlechten Nachricht, für die sie nun die Strafe einstecken müsste. Zugleich hatte er das Gefühl, dass ihr gerade das gefiel.

Als sie später aus ihrem Bad zurückkehrte, war ihr glattes Haar nass und dunkel. Der Bademantel sprang auf und gab ein geometrisch abgeteiltes Stück Haut frei, als sie sich zu ihm aufs Bett setzte. Sie hatte einen schönen kleinen Mund, schmal und formbar.

„Weißt du“, sagte Rosalind zu ihm: „vor Jahren hat mich ein Mann sicher fünfhundert mal gefragt, ob ich mit ihm schlafen wollte. Und ich habe ihm ebenso oft geantwortet: ‚Nein. Sicher nicht!‘ Das war unsere ganze Konversation. Aber er fragte immer wieder: ‚Schläfst du mit mir?‘ Und ich antwortete jedes Mal: ‚Nein. Sicher nicht!‘ Beim dreihundertsten Mal merkte ich, dass es mir nicht mehr lästig war, jeden Tag gefragt zu werden. Ich glaube, ich wartete darauf. Um die vierhundert herum wurde es vergnüglich. Ein Spiel. Aber dieser Mann fragte unentwegt weiter. Jeden Tag. Ich fing tatsächlich an zu vermuten, dass er der richtige Liebhaber für mich sein könnte. Bei fünfhundert merkte ich, dass mich seine Frage erregte. Da kannten wir uns zwei Jahre, und er nahm es in dem Moment gar nicht richtig wahr, als ich ihm mit ‚Ja!’ statt mit ‚Nein!’ antwortete.“

„Warum erzählst du mir das?“
„Du willst doch Belle?“
„Ist das so schwer zu verstehen?“
„Ich habe das Gefühl, dass du noch andere Dinge im Kopf hast...“
„Wirst du Belle von uns erzählen?“
„Keine Sorge, du wirst es ihr selbst sagen.“
„Warum hast du mit mir geschlafen?“
„Oh, wir Engländer haben eine Schwäche für tragische Helden.“

Was war mit ihm getan worden? dachte Tom. Oder: Was hatte er getan? War er Täter oder Opfer? Und was war das für eine Welt, in der man das nicht mehr zuverlässig in Erfahrung bringen konnte?
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:::::::::::::::::::::::::::::::: Jochen Langer lebt und arbeitet als Autor in Köln. Er war als Dozent für die 'Grundlagen des Erzählens' zuständig und hat eine Vorliebe für Literaturaktionen. Zahlreiche Förderpreise und Auszeichnungen. www.jochenlanger.de ----- Seit 2009 Alltagsbetreuer für demenziell Erkrankte, Dozent an Fachseminaren der Altenpflege und Museumsführer für Demenzkranke. Gründung von dementia+art - ein Dienstleistungs-Unternehmen für 'Kulturelle Teilhabe bei demenziellen Erkrankungen und altersspezifischen Einschränkungen'. www.dementia-und-art.de

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_____________________ Meine Kommentare

Danke für deine Antwort,...
Danke für deine Antwort, Lady! Dass sie nie zusammen...
JochenLanger1 - 2. Apr, 23:14
Ich hätte ja gern gewusst,...
Ich hätte ja gern gewusst, wie du (und andere) das...
JochenLanger1 - 2. Apr, 17:00
Kaffeehaus-Essenz.
Auch ich habe Ihren Kommentar gerne gelesen, weil er...
JochenLanger1 - 31. Mär, 09:04
Die Reise des Helden
Nein, das ist nicht begriffsstutzig, sondern auch mein...
JochenLanger1 - 30. Mär, 21:29
Nicht für das oben beschriebene...
Nicht für das oben beschriebene Vorhaben. Ansonsten...
lamamma - 29. Mär, 23:12

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