10
Feb
2009

Dass das Herz durchhält

Sein Blut hatte zu wenig Sauerstoff transportiert. Daher die Müdigkeit in den letzten Wochen. Die Hausärztin hätte die Krankheit früher erkennen müssen. Aber auch Tom war klar, dass sein Vater nicht freiwillig in ein gottverdammtes Krankenhaus gegangen wäre; ob nun zum Sterben oder nur zum Zweck irgendeiner Untersuchung.
„Es kommt darauf an“, hatte der behandelnde Arzt am Anfang noch erklärt, „dass das Herz durchhält.“

Tom hatte während dieser Tage die Arbeit seines Vaters gemacht und an Belle gedacht, die mit Frederik herumzog. Morgens brachte er die Mutter ins Krankenhaus, nachmittags holte er sie wieder ab. Zuhause musste er dafür sorgen, dass sie etwas aß und sich hinlegte, weil sie noch weniger schlief als sonst. Im Betrieb fehlten zwei von vier Frauen, die im Verkauf arbeiteten. Die eine war in Erziehungsurlaub, die andere hatte eine Sehnenscheidenentzündung und beide Unterarme in Gips. Tom musste sich mit Aushilfen herumschlagen, um den Verkauf kümmern und ums Büro.

Es war kein großes Krankenhaus, und die Intensivstation hatte bescheidene Ausmaße, nur drei oder vier Räume. Georg Boeder war schon vom Gang aus durch eine Glasfront zu betrachten, ausgestellt wie in einer Vitrine. Wenn Annelie Boeder auf die Intensivstation kam, musste sie erst einen Kittel und Plastiküberschuhe anziehen, dann durfte sie zu ihrem Mann.

Als Tom den Vater das erste Mal in der Klinik besuchte, war noch eine junge Schwester im Raum. Sie trug den üblichen Schwesternkittel, aber ihre sonnengebräunten Beine steckten in weißen Sportschuhen mit dicker Gummisohle. Der Vater selbst wirkte größer als in seiner Erinnerung und hatte in dieser Umgebung an Bedeutung gewonnen: der Monitor für die Herzstromkurve, die vielfarbigen Signallampen, der Infusionsständer, die Schläuche für die Sauerstoffzufuhr, der EKG Schreiber, optische und akustische Funktionsanzeigen - es war eine Tatsache, dass diese Maschinen nur für ihn da waren.

„Sie können ihn ruhig anfassen“, sagte die Schwester, die eine freundliche helle Kinderstimme hatte.
Dennoch scheute sich Tom, den Körper zu berühren. Eine halbe Armlänge neben ihm blieb er stehen. Unter dem Laken gurgelte plötzlich etwas wie die letzten Wasserdampfstöße einer Kaffeemaschine. Gleich darauf zog süßlicher Gestank durch den Raum. Tom deutete auf die Stelle, wo der Geruch seiner Meinung nach herkam.
„Ich glaube, er hat was gemacht.“
„Dann gehen Sie bitte für einen Moment raus, damit wir Ihren Vater versorgen können.“
Als er auf dem Gang hinaustrat, um dort zu warten, dachte er wieder an Belle. Was war mit Belle?

Schon nach dem zweiten Besuch wusste er nicht mehr, was er im Krankenhaus sollte. Die Maschinen waren die Einzigen, die Zugang zum Vater hatten. Auch die Mutter sagte: „Man kann nichts für ihn tun.“
Trotzdem saß oder stand sie neben seinem Bett, die kühle Hand ihres Mannes hatte sie in ihre Hände genommen. Manchmal rief sie seinen Vornamen, als wollte sie ihn aus einem Mittagsschläfchen zum Nachmittagskaffee rufen.

Warten. Das hatten die Ärzte der Mutter als erstes beigebracht.
Tom hatte sich seit einiger Zeit bei dem Gedanken ertappt, ob es nicht besser wäre, wenn der Vater stürbe. Er dachte an das Leid seiner Mutter, er dachte an dieses aufwendige Hin und Her und er dachte daran, dass der Oberarzt angedeutet hatte, dass der Vater nie wieder ein normales Leben würde führen können – was immer das heißen mochte. Irgendwie kam es ihm vernünftig vor, wenn sein Vater stürbe, da seine Zeit abgelaufen war. Danach würde man alles in Ruhe ordnen und Lösungen finden. Man brauchte auf nichts mehr Rücksicht nehmen. Jedenfalls nicht auf den engstirnigen Geiz des Vaters, nicht auf seinen Starrsinn, den auch die Mutter immer wieder beklagt hatte, seine Intoleranz, seine schroffe Art, seine Abgestumpftheit, was neue Entwicklungen – nicht nur in der Floristik – anging, seine unbegreifliche Selbstgerechtigkeit und seine ewige Ablehnung gegenüber seinem einzigen Sohn…
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fata morgana - 12. Feb, 13:55

hallo, sehr gerne lese ich hier, im blog und auch auf der website, habe ich schon gestöbert...

ist diese geschichte autobiographisch...? sorry, wenn die frage zu persönlich ist...
herzliche grüße aus dem nebel :-)

HansP - 12. Feb, 15:32

Gegenfrage

Danke, das ist ein schönes Lob - zumal die Beiträge ja manchmal einiges an Geduld abverlangen. Um deine Frage zu beantworten: die Geschichte (der komplexe Roman 'Reichstage', aus dem sie stammt) ist gewiss nicht autobiografisch. Doch beim Tod meines Vaters vor über 20 Jahren, habe ich ähnliche Erfahrungen gemacht wie in der Schilderung der Intensivstation.

Allerdings antworte ich bei dieser Frage gerne mit einer Gegenfrage: inwiefern änderte ein 'Ja' oder ein 'Nein' den Charakter einer Geschichte? Herzlich J.
fata morgana - 12. Feb, 21:11

es ist wohl mein subjektives empfinden -
ich hab mich beim lesen in den 'erzähler' hineinversetzt und überlegt, ob er es selbst erlebt hat/haben könnte... die art des schreibens, war für mich von nähe und distanz gleichermaßen geprägt...
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:::::::::::::::::::::::::::::::: Jochen Langer lebt und arbeitet als Autor in Köln. Er war als Dozent für die 'Grundlagen des Erzählens' zuständig und hat eine Vorliebe für Literaturaktionen. Zahlreiche Förderpreise und Auszeichnungen. www.jochenlanger.de ----- Seit 2009 Alltagsbetreuer für demenziell Erkrankte, Dozent an Fachseminaren der Altenpflege und Museumsführer für Demenzkranke. Gründung von dementia+art - ein Dienstleistungs-Unternehmen für 'Kulturelle Teilhabe bei demenziellen Erkrankungen und altersspezifischen Einschränkungen'. www.dementia-und-art.de

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