25
Feb
2009

Aus alt mach neu - Handwerk in der (Selbst)Kritik

Johanna Schwerin (die Hauptfigur eines der drei Teile meines Romans 'Reichstage', eine Bankerin, die ihre dreijährige Tochter allein erzieht) und Grasshoff, ein Textilunternehmer vom Niederrhein, für den sie ein Projekt betreut, sind Ende September 1989 in Prag, um einen Joint-Venture-Vertrag mit dem tschechoslowakischen Staat zu unterzeichnen. Sie wollen die Gelegenheit nutzen, um sich die Situation der DDR-Flüchtlinge in der bundesrepublikanischen Botschaft anzusehen, die zu dieser Zeit durch alle Medien geht.

Als sie vor Ort - d.h. an der Rückseite der Botschaft sind - kommt es zu einer absurden Situation, die ich, mit etwas Abstand, für nicht genug 'begründet' hielt. (Version 1)
Also versuchte ich den Kontext so zu gestalten, dass die absurde Situation als etwas durchaus Vorstellbares erscheint, bzw. dass den beiden kaum etwas anderes übrig bleibt als das zu tun, was sie dann tun...

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(Version 1)

Ein Polizist in Uniform - es war András, der sich ein Herz genommen hatte -, schnauzte sie jetzt an, dass sie verschwinden sollten. Vielleicht hielt er sie für Ostdeutsche. Jenseits des Zauns kamen drei junge Männer heran. Auch sie in Freizeitkleidung.

„Wollt ihr rüber? Kümmert euch nicht um den Clown. Klettert einfach rüber. Wir helfen euch.”

Seltsamerweise drehte der Polizist wie auf ein Stichwort ab, als sei er es leid, immer wieder dasselbe tun zu müssen. Im Gehen wendete er sich noch einmal um und machte eine wegscheuchende Bewegung, die aber nur aus den Handgelenken kam. gesellte er sich zu einer Gruppe Uniformierter an der nächsten Ecke. Er zog die Mütze vom Kopf und sagte etwas. Die anderen lachten rau in kurz aufeinander folgenden Wellen. Trotzdem wirkte es resigniert. Johanna und Grasshoff schauten sich verblüfft an.

„So sind die Kerle hier.” rief einer durch den Zaun. “Schnell mürbe, die Brüder.”
„Macht ihr nüber oder nich, junge Frau? Nur Mut: Hier drinne is allet immer noch besser als in dieset Scheißland.”
„Kein sozialistischer Boden mehr.”

Grasshoff schaute sie an: Nicht lange überlegen. hieß das. Wird schon gut gehen.
Johanna hatte die Rost schwitzenden Eisenstäbe gepackt und ließ sich von Grasshoff helfen, der die Hände zu einer Trittstufe verschränkte. Johanna wollte sich hochziehen. Aber das war gar nicht so einfach. Warum bin ich nicht beweglicher. dachte sie und riskierte einen Blick zu den Polizisten, die aufmerksam geworden waren und nun ihrerseits in ihre Richtung schauten.

„Schnell.” rief Grasshoff.
In Johanna stieg Panik auf: Sie hatte zu wenig Bewegungsfreiheit in ihrem Kostümrock. Am liebsten wäre sie wieder hinunter - wäre es nicht ihr Vorschlag gewesen, zur Botschaft zu fahren und wäre da nicht die Sorge gewesen, sich vor Grasshoff zu blamieren. Versuchsweise strampelte sie mit den Beinen und verlor dabei ihre Schuhe. Die Jacken, eine praktische Eingebung, hatten sie vorweg durch die Stäbe gereicht. Grasshoff packte mit beiden Händen unter ihren Hintern, hob und schob, dass sie dachte: Oh Gott. Aber wie durch ein Wunder, so kam es ihr vor, erreichte sie die spitzenbewehrte Höhe. Oben hockte sie fast bewegungslos vor Angst, sich zu verletzen. Aber wie durch ein Wunder waren nun gleich die jungen Männer zur Stelle, um zu helfen. Einer stand auf einem Tischchen, das eilig herangetragen worden war.

„Nur ruhig, junge Frau. Gleich is jeschafft.”
Als er sie zu sich herunterhob, gab es einen scharfen Riss: Johannas Kostümrock hatte nun einen neuen hoch angesetzten Seitenschlitz. Ihr schoss Bel Buchmann durch den Kopf: was würde die wohl zu diesem neuen Schnitt sagen? Grasshoff strampelte noch am Gitter. Mit hochrotem Kopf und vortretenden Halsadern zog er sich hinauf. Die jungen Männer nahmen ihn in Empfang.

„Man wird unbeweglich.” keuchte er, als er endlich neben ihr stand.
„Wir müssen verrückt geworden sein.”
„Hab ich auch gedacht - aber da waren Sie schon drüben: Ich konnte Sie doch nicht allein lassen.”
Einige der jungen Männer hatten sich vor ihnen aufgebaut.
„Wo kommt ihr denn her?”


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(Version 2)

Ein Polizist in Uniform - es war András, der sich wieder auf seine Pflichten besonnen hatte -, schnauzte sie jetzt an, dass sie verschwinden sollten und breitete seine kurzen Arme aus, um sie weg zu scheuchen. Wahrscheinlich hielt er sie für Ostdeutsche. Von der Botschaftsseite her kamen drei junge Männer heran, die sich laut unterhielten, aber das Geschehen am Zaun im Auge behielten. Auch sie wie die meisten in Freizeitkleidung. In diesem Moment bog im Laufschritt eine große Gruppe in den Weg ein, gewiss zehn oder zwölf Personen, Männer, Frauen, Kinder, die, als sie auf der Höhe von Johanna und Grasshoff waren, gleich begannen, am Gitter hoch zu klettern. Vom anderen Ende des Weges lösten sich jetzt einige Uniformierte, um András zu unterstützen, der angesichts der Übermacht abgedreht hatte.

Die drei jungen Männer hatten einen Tisch geholt und direkt am Zaun aufgestellt. Einer von ihnen, der sehr kräftig aussah, mit roten Haaren und einer Tätowierung am Oberarm, schwang sich hinauf, um zu helfen.

„Kümmert euch nicht um die Clowns!“
„Klettert einfach rüber!“
„Wir helfen euch. Na los!”

Inzwischen wurde András von der Gruppe Uniformierter in die Mitte genommen. Er zog die Uniformmütze vom Kopf, schlug sie gegen seinen Oberschenkel und sagte etwas. Die anderen lachten rau, in kurz aufeinander folgenden Wellen. Es klang resigniert. Dann schienen sie sich zu beraten.

Johanna und Grasshoff waren von den Neuangekommenen ganz umringt und an den Zaun gedrängt worden. Um sie herum war ein unübersichtliches Gemenge von sich reckenden Armen und scharrenden Füßen. Überall lagen Gepäckstücke, über die man stolpern konnte.

„Nur Mut!“ schrie jemand. „Hier drinne is allet immer noch besser als in dieset Scheißland!”
Plötzlich war eine Frau direkt neben Johanna, stieß sie heftig gegen den Oberarm und schrie sie wütend an: „Na los! Kein sozialistischer Boden mehr. Frei sein! Worauf wartest du, du dumme Kuh!“
„Macht ihr nüber oder nich, junge Frau?“
Einer der jungen Männer hatte sie direkt angesprochen. Johanna stand unmittelbar am Zaun, wusste nichts zu antworten und fühlte Panik aufsteigen. Wo war Grasshoff? Sie konnte ihn nicht sehen. Hinter ihr war ein Handgemenge mit den Polizisten im Gange. Nachher schießen die noch! dachte sie. Tschechische Befehle, unmittelbar an ihrem Ohr. Sie bekam einen Tritt gegen ihre Kniekehle, der sie fast hätte zu Boden gehen lassen. Nur nicht hinfallen! Sie hatte Angst und musste an Zazie denken. Und dann hatte sie die Mutter mit dem Kind vor Augen und den grässlichen Dialekt im Ohr. Und wieder jagte ihr die Erinnerung einen Schauder über den Körper. Sie konnte Grasshoff immer noch nicht sehen. Als sie nach ihm rief, merkte sie, dass durch das laute Geschrei um sie herum, eine Verständigung kaum noch möglich war.

Wieder erhielt sie einen heftigen Stoß von hinten. Sie klammerte sich an den Gitterstäben fest, um nicht zu fallen. Dann fühlte sie plötzlich kräftige Hände, die sie umfassten und hochhoben. Zugleich sah sie Grasshoff, der die Hände zu einer Trittstufe verschränkte. Ohne zu überlegen, schob Johanna den linken Fuß vor und versuchte sich hoch ziehen. Warum bin ich nicht beweglicher, dachte sie ächzend. Jemand versuchte, sie wieder herunter zu ziehen. Sie schrie auf und hielt sich an den rostigen Gitterstäben fest, mehrere Hände schoben sich nun unter ihren Hintern und hoben sie kräftig an. Oh Gott, was tue ich hier? dachte sie, als sie merkte, wie sie an Höhe gewann, schwankend, nur nicht nach rückwärts fallen. Wie durch ein Wunder erreichte sie die Zaunhöhe. Oben blieb sie vor Angst, sich an den spitzen Gitterenden zu verletzen oder herunter zu fallen, hocken... Sie sah, dass die Polizisten sich zurück gezogen hatten. Allerdings konnte sie nicht mehr zurück: hinter ihr kletterten schon ein Mann und die Frau, die sie gestoßen und böse angezischt hatte, am Zaun hoch.

„Na los, du fette Wachtel! Wenn du da nicht mehr runter kommst, helf ik dir!“ schrie die Frau jetzt erbost darüber, dass Johanna ihr schon wieder im Weg war.
Johanna war klar, dass sie das wirklich tun würde. Aber durch ein weiteres Wunder war der Rothaarige da, um ihr herunter zu helfen.
„Nur ruhig, junge Frau. Gleich is jeschafft.”

Als er sie zu sich herunter hob und zog, gab es einen scharfen Riss, der dem leichten geblümten Baumwollrock, den Johanna trug, einen hoch angesetzten Seitenschlitz verpasste. Was würde Bel Buchmann dazu sagen? Der plötzlich auftauchende Gedanke belustigte Johanna ungeachtet der Situation, in der sie sich befand, sodass sie laut kicherte. Ja, dachte sie noch: sie hatte das Kleid schon mal sehen!

Als sie sich umdrehte, bemerkte sie, dass auch Grasshoff am Gitter strampelte. Mit hochrotem Kopf und vortretenden Halsadern zog er sich hinauf. Die jungen Männer nahmen auch ihn in Empfang.

„Man wird unbeweglich”, keuchte er, als er endlich neben ihr stand.
„Wir müssen verrückt geworden sein. Komplett verrückt!”
„Hab ich auch gedacht - aber da waren Sie schon drüben. Ich konnte Sie doch nicht allein lassen.”

Ringsum lagen sich die Familien, die es über den Zaun geschafft hatten, in den Armen. Einige weinten. Der Rothaarige baute sich jetzt vor Johanna und Grasshoff auf.
„Wo kommt ihr denn her?”
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:::::::::::::::::::::::::::::::: Jochen Langer lebt und arbeitet als Autor in Köln. Er war als Dozent für die 'Grundlagen des Erzählens' zuständig und hat eine Vorliebe für Literaturaktionen. Zahlreiche Förderpreise und Auszeichnungen. www.jochenlanger.de ----- Seit 2009 Alltagsbetreuer für demenziell Erkrankte, Dozent an Fachseminaren der Altenpflege und Museumsführer für Demenzkranke. Gründung von dementia+art - ein Dienstleistungs-Unternehmen für 'Kulturelle Teilhabe bei demenziellen Erkrankungen und altersspezifischen Einschränkungen'. www.dementia-und-art.de

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Danke für deine Antwort,...
Danke für deine Antwort, Lady! Dass sie nie zusammen...
JochenLanger1 - 2. Apr, 23:14
Ich hätte ja gern gewusst,...
Ich hätte ja gern gewusst, wie du (und andere) das...
JochenLanger1 - 2. Apr, 17:00
Kaffeehaus-Essenz.
Auch ich habe Ihren Kommentar gerne gelesen, weil er...
JochenLanger1 - 31. Mär, 09:04
Die Reise des Helden
Nein, das ist nicht begriffsstutzig, sondern auch mein...
JochenLanger1 - 30. Mär, 21:29
Nicht für das oben beschriebene...
Nicht für das oben beschriebene Vorhaben. Ansonsten...
lamamma - 29. Mär, 23:12

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