27
Feb
2009

Ein Beamter oder: Wie kommen wir da wieder raus?

Johanna Schwerin und Grasshoff (der 3. Erzählstrang der 'Reichstage') sind auf eine Art und Weise in der bundesrepublikanischen Botschaft in Prag gelandet, die ich gar nicht näher kommentieren will. Wir schreiben das Jahr 1989. Der chaotische September. Die Frage ist also: wie kommen die da wieder raus?
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Der erste Botschaftsmitarbeiter, der ihnen in dem Gewimmel über den Weg lief, war zur Verstärkung aus der Bonner Zentrale abkommandiert worden. Er kannte Grasshoff, führte sie durch das überfüllte Haus in den ersten Stock und präsentierte ihnen vom Balkon des großen Empfangszimmers die Situation auf dem Außengelände des Palais.

Johanna sah unter sich ein Flüchtlingslager mit einer tausendköpfigen Menschenmenge. Genau der richtige Platz, um Geschichte zu machen! dachte sie: Wäre ich der deutsche Außenminister und hätte denen da unten was zu sagen, würde ich es von diesem Balkon aus tun.

„Ihre Anwesenheit”, sagte der Beamte mit Blick auf sein Flüchtlingslager, “widerspricht ein wenig den Gesetzen der Logik und der Diplomatie.”
Seine Stimme klang heiser und ab und zu schlichen sich kleine Pausen zwischen zwei Satzteile, die darauf schließen ließen, dass der Mann vom vielen Reden erschöpft war.
Grasshoff wusste, dass sie gemeint waren und setzte an, um etwas zu erklären. Aber der Diplomat winkte erschöpft ab. “Lassen Sie. Ich werde es sowieso nicht verstehen. Oder gleich wieder vergessen. Sie glauben nicht, was hier los ist und was man hier zu hören bekommt. Sagen Sie einfach, was ich für Sie tun kann. Sie wissen, die Botschaft ist dicht. Der normale Amtsbetrieb lahm gelegt. Es gibt keinen Raum, wo man ungestört wäre. Also sage ich Ihnen besser gleich, dass ich im Grunde nichts für Sie tun kann. Wie sind Sie eigentlich hier rein gekommen? Ist das Ihre Begleiterin? Angenehm. Nein, nennen Sie mir nicht Ihren Namen. Das haben heute schon tausend Leute getan. Das ist ein Irrenhaus hier. Aber ich sage Ihnen trotzdem was: Wenn wir durchhalten, zum Beispiel, weil gegen jede Erwartung die Klos nicht endgültig verstopfen, dürfen wir am Ende noch behaupten: Wir sind dabei gewesen!”

Für einen Moment gönnte er sich ein selbstzufriedenes Lächeln darüber, dass er das bekannte Goethezitat hatte anbringen können. Er erwartete freilich, dass man es als solches erkannt und die Anspielung verstanden hatte.
„In der Masse”, sagte Grasshoff leise, “löst sich die Schönheit der Freiheit am schnellsten in Scheiße auf. Verzeiht die Drastik!”
Johannas Gesicht drückte Abwehr aus, obwohl sie im Grunde dasselbe dachte.

Der Mitarbeiter des auswärtigen Amtes war groß, schlank und gepflegt, wie es in der Schicht der Ministerialbeamten üblich war, mit einem fein ziselierten Karrierekopf und einer tiefsitzenden zarten Brille mit halben Gläsern, durch die ausnahmslos kluge, aufmerksame und – sofern es angebracht schien – auch mitfühlende Blicke fielen. Zu einer hellen Bundfaltenhose trug er ein blütenweißes Hemd mit kleinteilig getupfter gelbblauer Krawatte. Er wirkte wie aus einem Modejournal entsprungen und strahlte zugleich eine Ruhe und Zuversicht aus, bei der man eher an einen Offizier des Britisch Empire denken mochte. Johanna sah jedoch auch die Schatten unter seinen Augen, die übermüdet mit dem grellen, unsteten Licht kämpften.

„Eigentlich wollen wir raus”, sagte Grasshoff.
„Raus? Nichts leichter als das. Raus ist einfach. Das Reinkommen nicht, wie man hört. Aber den hier anwesenden Massen nach zu urteilen, ist das kaum mehr zu glauben. Raus wollen Sie? Aber gern. Zwei weniger auf diesem Seelenverkäufer. Da sag ich nicht nein. Kommt, ich bringe euch zur Tür. Die draußen, von tschechischer Seite, werden sich zwar wundern, aber ihr habt ja westdeutsche Pässe. Die haben Sie doch noch? Oder?”
„Ja.”
„Natürlich.”

Wohin sie auch in dem einstigen Palais kamen, überall warteten Menschen. Ohne erkennbare Ordnung, ohne äußeren Anlass. Die Stimmen waren gedämpft. Nur die der Kinder anerkannten keine Restriktion, sondern schlugen schrille vertikale Schneisen in die Monotonie des allgegenwärtigen Gemurmels. Gerüche von Bohnensuppe, die durchs Haus zogen, zugleich ein penetranter Urin und Schweißgeruch, dem schon der stechende Dunst von Desinfektionsmitteln auf den Fersen war. Es war seit Tagen heiß. Eine Frau bat um etwas Wasser für ihre Mutter. Ein älterer Mann fragte nach Zigaretten. Zwei junge Mädchen boten ihre Hilfe bei der Zubereitung der Mahlzeiten an. In einer Ecke wurde diskutiert, ob es in der DDR wirklich so schlimm gewesen sei.

“Wer den Sozialismus verlässt”, sagte ein Mann mit wirrem Haar und Vollbart eher zweideutig, “weiß, was er tut.”
„Wie viele Menschen sind in der Botschaft?”
Johanna fragte es über die Schulter des Beamten hinweg, der sich auf dem Weg zur Pforte beharrlich weiter voran schob.
„Wir verhalten uns in dieser Frage mittlerweile wie Börsenmakler und geben Kursdaten nur noch mit genauer Zeitangabe. Heute Mittag 12 Uhr 15 waren es eintausend siebenhundert. Wenn unsere Zahlen stimmen, was Sie bezweifeln dürfen. Stündlich kommen etwa fünfzig hinzu.”
„Wie soll es weitergehen?”
„Weiter? Na, es kommen immer mehr, und es wird verhandelt. In Bonn, in New York beim Außenministertreffen, in Ostberlin. Der Druck im Kessel steigt. Wenn wir hier zu zwo fünf sind, maximal drei, knallt's. Da ist einfach nichts mehr zu organisieren bei der Enge und bei den Möglichkeiten, die wir haben. Im Grunde können wir froh sein, dass die tschechische Seite sich weitgehend raus hält und hier nicht mit Panzern auffährt, wie es die Herren in Ostberlin gerne hätten. Aber lange geht das nicht mehr, weil, die wollen keine Eskalation hier haben, die haben ihre eigene Bürgerbewegung und sind nicht scharf auf eine importierte.”

Er war stehen geblieben, um ihnen die Situation stilgemäß auseinander zu setzen. So viel Zeit musste sein. Seine schönen, sonnengebräunten, makellos manikürten Hände ordneten dabei mit kleinen, pointierten Bewegungen die Verhältnisse. “Da sind die draußen, die unbedingt rein wollen, und da sind die, die schon drinnen sind, für die das Stückchen Freiheit, in das sie sich gewagt haben, schon schwieriger zu werden beginnt. Und da ist die Ostberliner Regierung, die alles zurückdrehen möchte, den ganzen Film der letzten Wochen und das belichtete Material vernichten. Die tschechoslowakische Regierung ist auch bald so weit, muss aber auf den Wirtschaftsriesen Bundesrepublik Rücksicht nehmen. Ganz anders etwa als die DDR, die glänzend verdient an ihrem Rumpfteil deutscher Nation. Und da ist die Bundesregierung, die irgendwie ihre Kapazitäten an Auffanglagern auslasten muss. Und zum Schluss ist da unser kleines Teamchen von Animateuren im Palais Lobkowicz...”

„Roulette mit mehreren Kugeln”, warf Grasshoff ein.
Der Mann lachte anerkennend, Johanna hingegen blieb ernst. Die Drei blockierten seit einiger Zeit den Durchgang, aber niemand beschwerte sich. Man hörte lieber zu, wie Kinder einer Unterhaltung, bei der ihr Name gefallen war.
„Zurückschicken geht nicht, von wegen Grundgesetz und so. Sind schließlich Deutsche. Bleiben können Sie auch nicht. Das gibt Typhus und Cholera und was weiß ich... Da brauchte es nicht mal hohe Temperaturen. Sie einfach raus lassen geht nicht für die DDR. Unmöglich, weil, dann kommen noch mehr nach.” An der Tür hielt der Beamte inne. Ihm schien noch etwas eingefallen sein. “Was wollten Sie eigentlich hier? Wollen Sie mir das nicht verraten?” Die beiden schauten sich mit ratlosen Gesichtern an, als wunderten sie sich über eine taktlose Frage. “Sie haben Geschäfte in Prag, Dr. Grasshoff - ein Joint Venture, nicht wahr?”
„Wir haben heute den Vertrag unterzeichnet. Frau Schwerin vertritt das Bankenkonsortium. Sie war mir bei der Abwicklung sehr behilflich.”
„Was mich noch interessieren würde: Wie war die Atmosphäre? Haben die Genossen einen Eiertanz aufgeführt? Die können doch nicht so tun, als wäre nichts – oder doch?”
„Oh, die Herren schienen durchaus kribbelig. Man konnte merken, dass sie fürchteten, die politische Lage könnte sich auf die Geschäfte auswirken.”
„Hatten Sie selbst Bedenken deswegen?”
„Sollte ich? Alles war mit dem Auswärtigen Amt abgestimmt, mit unserem, wohlgemerkt.”
Der Beamte lächelte vielsagend. “Wir geben keine Garantien für die Zukunft.”
„Genau wie ich!“ gab Grasshoff zurück. „Genau wie ich.“
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Die Twosome-Briefe 11

bagrasbagras

[Montag, 14.Mai 2001]

Liebe Amélie,

hab Dank für deine Zeilen! - Wenn etwas Ruhe im Cockpit einkehrt (man übergibt an den Ersten, kann einen Moment durchatmen, du kennst das...) – lasse ich mir Tee bringen. Ja, Tee! Wie ein Engländer in einer National Geografic-Doku über das Leben auf den britischen Inseln. Mit Milch und Zitrone. Lach’ nicht! Dabei bin ich weiß Gott kein Engländer. Es würde mich sogar wundern, wenn in Tomcaville jemals ein Engländer gewesen ist. Solange ich denken kann, hat man die Fremden an einer Hand abzählen können. Ein Engländer wäre eine kleine Sensation gewesen: Stoff für seitenlange Artikel im ‚Tomcaville Cronicle’.

Und auch nachdem ich weggegangen bin, ist das sicher nicht anders geworden. Meine Mam hätte es mir erzählt. Wenn möglich, besuche ich sie einmal im Jahr. Mein Dad starb bei einem Unfall auf der Farm. Die Farm ist später verkauft worden, doch Mam hat ein lebenslanges Wohnrecht. Wenn ich Zuhause bin, stelle ich bald fest, dass sich eigentlich nichts verändert hat: ihr Gemüsegarten, die Einmachgläser im Vorratsraum, das Ehebett, das alle paar Wochen mit frischer Wäsche bezogen wird, obwohl meine Mam nicht mehr darin schläft.

Hinter dem Haus fängt der Weizen an. Es gab nichts anderes, über Hunderte von Meilen hinweg. Alles wurde dadurch bestimmt, alles festgelegt. Selbst dass ich Pilot geworden bin.

Ein lieber Gruß

Johnny


PS: Gestern habe ich mit meiner Mam telefoniert (‚Muttertag’). Sie hat gefragt, wie es mir geht und ob ich immer noch fliege… Meine Mam wollte das selbst nie: Fliegen.
Nicht einmal mit ihrem Sohn. Sie hat mir keine Steine in den Weg gelegt, als ich Pilot werden wollte. Aber sie wollte nie fliegen. Ich habe ihr das hundertmal angeboten, und jedes Mal, glaube ich, hat mich ihre Ablehnung mehr gekränkt, als ich ihr gegenüber zugeben wollte.

Chef schreibt Haikus

Ich frage mich, ob technische Entwicklungen wie Twitter nicht auch alte Literaturformen wie Haikus ('lustiger Vers') neu definieren werden (wie so manches andere). Also nicht mehr das strenge 5-7-5-Silben-Schema (in europäischer Annäherung), sondern digital: kleiner als 140 Zeichen.

Dazu passt vielleicht ein Tweed von 'technicalfault' unter dem Tag #haiku:
  • "My boss has left me an email note today - in #haiku"
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Erzählen

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Belle Oppenheim
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Bettina Leipzig Alltagsbetreuer Liebe am Nachmittag Haiku

:::::::::::::::::::::::::::::::: Jochen Langer lebt und arbeitet als Autor in Köln. Er war als Dozent für die 'Grundlagen des Erzählens' zuständig und hat eine Vorliebe für Literaturaktionen. Zahlreiche Förderpreise und Auszeichnungen. www.jochenlanger.de ----- Seit 2009 Alltagsbetreuer für demenziell Erkrankte, Dozent an Fachseminaren der Altenpflege und Museumsführer für Demenzkranke. Gründung von dementia+art - ein Dienstleistungs-Unternehmen für 'Kulturelle Teilhabe bei demenziellen Erkrankungen und altersspezifischen Einschränkungen'. www.dementia-und-art.de

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Danke für deine Antwort,...
Danke für deine Antwort, Lady! Dass sie nie zusammen...
JochenLanger1 - 2. Apr, 23:14
Ich hätte ja gern gewusst,...
Ich hätte ja gern gewusst, wie du (und andere) das...
JochenLanger1 - 2. Apr, 17:00
Kaffeehaus-Essenz.
Auch ich habe Ihren Kommentar gerne gelesen, weil er...
JochenLanger1 - 31. Mär, 09:04
Die Reise des Helden
Nein, das ist nicht begriffsstutzig, sondern auch mein...
JochenLanger1 - 30. Mär, 21:29
Nicht für das oben beschriebene...
Nicht für das oben beschriebene Vorhaben. Ansonsten...
lamamma - 29. Mär, 23:12

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Gershwin: Rhapsody in Blue-An American in Paris


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